Filme für ein vergessenes Publikum: Wie das Kino am Mehringplatz Filmkultur in einen Berliner Brennpunkt bringt
- Toni Schindele
- 27. Juni
- 5 Min. Lesezeit
Mitten in Berlin steht ein Platz, den kaum jemand kennt – obwohl hier über 13.000 Menschen leben. Ein vergessener Ort, an dem ein ungewöhnliches Projekt den Beton zum Leuchten bringt: das Kino am Mehringplatz.

Ein Sommertag in Kreuzberg, 36 Meter über dem Meeresspiegel. Die Sonne bricht über die kargen Betonfassaden, spiegelt sich auf grauen Balkonbändern und den Fenstern der 14-geschossigen Wohnhochhäuser. In der Mitte ragt sie, fast unpassend monumental: die 19 Meter hohe Friedenssäule. Auf ihrer Spitze die Siegesgöttin Viktoria, entworfen von Christian Daniel Rauch und im 19. Jahrhundert aufgesetzt – ein Relikt aus der Zeit, als dieser Ort noch Belle-Alliance-Platz hieß und zu den repräsentativsten Adressen der Stadt gehörte. Heute kennen ihn selbst Berliner kaum. Obwohl hier, am südlichen Ende der Friedrichstraße, über 13.000 Menschen leben – zwei Drittel davon mit Migrationshintergrund, etwa 40 Prozent auf Sozialleistungen angewiesen.
„Das ist ein ziemlich vergessener Ort“, sagt Heike-Melba Fendel, die dagegen etwas unternommen hat. Der Mehringplatz ist ein Brennpunkt mit Denkmalschutz. Sein Durchmesser: exakt 90 Meter. Seine Fläche: mehr als 6.300 Quadratmeter. Hier endet seit dem 18. Jahrhundert die Friedrichstraße – die Achse des preußischen Wachstums. 1815, nach dem Sieg über Napoleon, wurde das bisherige Rondell in Belle-Alliance-Platz umbenannt. Ein Symbol des Triumphs. Im Kaiserreich entwickelte er sich zum bürgerlichen Treffpunkt, mit Blumenrabatten und dem Belle-Alliance-Theater. Im Februar 1945 dann die Zerstörung: 70 Prozent der Bebauung fielen Bombenangriffen zum Opfer. Nach dem Krieg blieb eine Brache. Ende der 1960er Jahre begann die Planung der Utopie der Nachkriegsmoderne, ausgeführt in den frühen 1970er Jahren: 1.200 neue Wohnungen, Podeste, Ladenpassagen.
Doch das Konzept der „Urbanen Nachbarschaft“ scheiterte bald an der Realität. Leerstand, Vandalismus, Drogenhandel – seit den 1980er Jahren gilt der Platz als sozialer Brennpunkt. „Der war auch bis vor drei Jahren zwölf Jahre zugesperrt, weil wieder so Berlin halt“, sagt Fendel. „Eigentlich sollte nur eine Kleinigkeit repariert werden an der U-Bahn, also am Dach der U-Bahn, und das dauert dann halt zwölf Jahre.“ Heike-Melba Fendel ist Filmagentin, Kuratorin, Filmpublizistin. Sie kennt Premieren, Festivaljurys, Filmkritiken. Jetzt zeigt sie hier Filme. „Da ich zwei Seelen in meiner Brust habe, nämlich eine soziale und eine cineastische, habe ich gedacht, das lohnt sich hier doch zu kombinieren.“ 2021 organisierte sie deshalb erstmals das Kino am Mehringplatz.

Ein Projekt, das Kino aus seiner Komfortzone holt. „Ein vergessener Ort und vergessene Menschen verdienen Aufmerksamkeit, verdienen Teilhabe einerseits – das ist der politische Teil – und andererseits verdient das Kino auch Zuschauer, die nicht von alleine zu ihm finden.“ Doch das ist leichter gesagt als getan. Im ersten Jahr blieb kaum jemand sitzen. Jugendliche spielten Fußball, es gab Rangeleien. „Es war wirklich in Teilen auch nicht so lustig“, erinnert sich Fendel. Viele Menschen hier haben nie gelernt, was Kino bedeutet. „Es gibt einfach überhaupt keine Erfahrung mit dem Medium Film“, erklärt Fendel. Sie erzählt von einem Mädchen, das sich an einen Auftritt des Kinderfernsehstars „Checker Tobi“ erinnerte. „Das ging so weit, dass ein junges Mädchen im zweiten Jahr dann sagte: Ist das wieder mit dem Außenfernseher?“.
„Der Außenfernseher ist natürlich eine Open-Air-Leinwand, aber da sieht man, das ist so ein bisschen auch so ein exemplarisches Statement.“ Im Sommer 2025 wird das Kino am Mehringplatz mit „Spielerinnen“ von Aysun Bademsoy eröffnen. Ein Film über Frauen, deren Lebenswege sich nur wenige hundert Meter entfernt abgespielt haben. „Da ist tatsächlich der Zusammenhang, dass die Protagonistinnen in Teilen ganz nah am Platz leben und die Hochzeit, um die es auch geht, ist ein Steinwurf entfernt.“ Erfahrungen wie diese prägen das Auswahlprinzip: Filme sollen den Menschen vor Ort etwas erzählen, das mit ihnen zu tun hat. „Viele der sehr jungen Männer möchten Bollywoodfilme“, sagt Fendel. „Aber was fast am meisten gewünscht wird, sind keine spezifischen Titel, sondern dass die sagen: Wir möchten Filme von hier. Oder wir möchten Filme über uns.“
Soziologische Daten belegen, wie stark der Platz vom Rest der Stadt abgekoppelt ist. Rund 67 Prozent der Anwohner haben einen Migrationshintergrund – fast doppelt so viele wie im Berliner Schnitt. Die Armutsquote liegt bei über 40 Prozent. Die meisten Menschen informieren sich nicht über Programme auf Websites. „Ich würde sagen, dass wir immer noch 50 Prozent unseres Publikums am Platz, am Tag selber generieren“, erklärt Fendel. In der Thermometersiedlung im Südwesten Berlins – noch abgeschotteter, noch leiser – sei es noch schwieriger gewesen, einen Ableger zu organisieren. „Das hat sich angefühlt wie Wahlkampf für die FDP“, sagt sie lachend. „Niemand wollte uns haben.“ Doch mit Geduld kommt Neugier. Manche Veranstaltungen doch über 250 Besucher. Filme wie „Jenseits der Stille“ trafen Nerv und Herz.
„Es war ein ganz heißer Abend, diese Musik, der Film, die Menschen, die da waren und die so glücklich waren über die Schauspieler. Ich glaube, jeder und jede dieser 250 Personen ist da an diesem Abend nach Hause gegangen und war, glaube ich, ziemlich glücklich.“ Für den zweiten Abend am Mehringplatz 2025 hat Fendel einen Kontrast eingeplant: „Home Entertainment“ von Dietrich Brüggemann – ein Film über die Absurditäten digitaler Bequemlichkeit. „Das ist ein Film, der auch sehr anschlussfähig ist.“ Man könnte denken, das Projekt sei soziale Romantik. Ein Tropfen Idealismus im Betonmeer. Aber für Fendel geht es um mehr: „Ich glaube, dass das einen Wert hat und dass das auch ein Kulturgut ist. Und das gehört für mich auch in dieses Projekt rein, dass das eine Maßnahme ist, das Kino und Kinoschauen auf diese Art und Weise lebendig zu halten.“ Es geht um das Recht auf Kultur, auch für Menschen, die in Statistiken als arm, bildungsfern oder integrationsbedürftig gelten.

„Wir haben eigentlich jedes Jahr einen Film als Vorpremiere, was für uns wichtig ist, damit wir auch Leute an den Mehringplatz holen“, sagt Fendel. „Für die Menschen am Platz ist es total egal, ob ein Film noch nicht im Kino war oder nicht.“ Wenn die Leinwand glüht und das Bild flimmert, verschwindet für zwei Stunden der Ruf des Brennpunkts. Fendel hat gelernt, ihre Perspektive zu verschieben. „Ich musste sehr viel lernen, als jemand, die sehr, sehr lange schon ins Kino geht und natürlich festivalsozialisiert ist. Das kann man alles ziemlich vergessen, wenn man das macht, was wir da machen.“ Doch genau das ist der Kern ihres Projekts: Film als gemeinsames Erlebnis – unabhängig von Bildung, Einkommen oder Herkunft. „Dass man ihnen mittels des Kinos irgendwie eine Welt eröffnen will, das hat eine totale Magie.“
Das Kino am Mehringplatz 2025 – Programmübersicht:
28. Juni 2025 – „Spielerinnen“: Dokumentarfilm von Aysun Bademsoy über junge Frauen zwischen Fußball und Familiengeschichten – mit anschließender Diskussion.
19. Juli 2025 – „Home Entertainment“: Komödie von Dietrich Brüggemann über die Tücken des digitalen Filmkonsums – leicht, ironisch, hochaktuell.
6. September 2025 – „Sister Queens“: Dokumentarfilm und Empowerment-Porträt über junge Frauen – mit Konzert als Abschlussveranstaltung.
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