„Als ich das Buch gelesen habe, war ich geschockt“, erzählt Flora Li Thiemann über ihre erste Begegnung mit der Welt evangelikaler Freikirchen, um die es in ihrem neuen Kinofilm „Gotteskinder“ geht.

Flora Li Thiemann gehört zu den aufstrebenden Schauspielerinnen ihrer Generation. Bereits in jungen Jahren begeisterte sie mit Hauptrollen in Filmen wie „Sputnik“, „Die Schneekönigin“ und „Tigermilch“. Für Frauke Lodders Film „Gotteskinder“ tauchte Thiemann nun in eine Welt ein, die ihr zunächst völlig fremd war: die Welt evangelikaler Freikirchen. Der Film erzählt von einer scheinbar harmonischen Gemeinschaft, die durch starre Glaubenssätze und strenge Regeln tiefgreifende Konflikte hervorruft. Zentral geht es um die Geschwister Hannah und Timotheus. Die beiden Jugendlichen wachsen in einer streng evangelikalen Familie auf, die nach außen ein Bild perfekter Harmonie vermittelt.
Hannah engagiert sich mit Leidenschaft in der Freikirche und hält ein Keuschheitsgelübde ein, das körperliche Intimität vor der Ehe ausschließt. Doch ihre Überzeugungen geraten ins Wanken, als sie sich zum neuen Nachbarsjungen Max hingezogen fühlt. Ihr Bruder Timotheus kämpft derweil mit seiner Homosexualität, die er als Verstoß gegen den göttlichen Willen empfindet. Verzweifelt versucht er, seine Gefühle in einem „Seelsorge-Seminar“ zu unterdrücken. Beide Geschwister stehen schließlich vor der schwierigen Entscheidung, ob sie den strengen Regeln ihrer Gemeinschaft und den Erwartungen ihrer Eltern folgen oder ihren eigenen Gefühlen und Überzeugungen Raum geben.
Der Film Journalist: Aus den USA hat man ja bereits von evangelikalen Christen gehört, aus Deutschland so strikt noch nicht wirklich. Was waren deine Gedanken, als du das erste Mal von dieser Geschichte gehört hast?
Flora Li Thiemann: Ich war total überrascht, als ich das Drehbuch gelesen habe. Ich hatte auch

vorher kaum etwas über evangelikale Strömungen mitbekommen, weder in Deutschland noch anderswo. Ein paar Eindrücke aus den USA hatte ich, aber das war nicht wirklich präsent bei mir. Den Film „Virgin Tales“, den auch Frauke gesehen hat, kannte ich zwar, aber das war es auch schon. Als ich das Buch gelesen habe, war ich geschockt, dass so etwas in Deutschland im Hintergrund passiert und man gar nichts davon mitkriegt – jedenfalls ich nicht. Ich bin ohne kirchlichen Bezug aufgewachsen und habe mich nie groß mit solchen Themen befasst. Aber jetzt, wo ich durch den Film damit in Berührung gekommen bin, treffe ich plötzlich mehr Leute, die aus Freikirchen kommen, weil es auch zum Gesprächsthema wird. Vorher habe ich so etwas nie wahrgenommen.
Der Film Journalist: Du meintest einmal, dass du dich selbst als nicht gläubig bezeichnest und vor diesem Film auch nicht allzu intensiv mit den biblischen Geschichten vertraut warst – wie war es dann, in diese Welt der Freikirche einzutauchen?
Flora Li Thiemann: Ich fand das total interessant, weil Glaube, Kirche und Religion für so viele Menschen ein Zuhause bedeuten und ein riesiger Teil unserer Welt sind. Wenn man privat wenig

damit zu tun hat, aber dann eine Rolle spielt, in der das ganz zentral ist, muss man sich intensiv damit auseinandersetzen. Ich fand es toll, so viel darüber zu lernen. Ich mag es generell, Rollen zu spielen, die super weit von mir selbst entfernt sind, weil ich dann Neues lerne und mich in Menschen hineinversetzen kann, die ganz anders leben. Zur Vorbereitung habe ich dann unter anderem eine Kinderbibel gelesen, um mir Grundkenntnisse anzueignen und ich musste Gitarre lernen und singen. Ich wusste schon zwei Jahre vor Drehbeginn, dass ich diese Rolle übernehmen würde und hatte genug Zeit, mit Menschen zu sprechen, die einen Freikirchen-Hintergrund haben. Sobald man sich damit befasst, merkt man erst, wie oft man auf dieses Thema stößt. Das half mir sehr, mich beim Dreh in diese Welt hineinzuversetzen, in der alles normal ist, was zuvor für mich fremd war.
Der Film Journalist: Konntest du im Zuge dieses Films auch mit Ausgestiegenen solcher Gemeinden sprechen?
Flora Li Thiemann: Direkt mit Ausgestiegenen habe ich vor dem Dreh nicht gesprochen, aber viele Artikel und Erfahrungsberichte gelesen. Im Nachhinein hatte ich dann Gespräche mit Menschen, die in Freikirchen aufgewachsen sind. Manche hatten positive Erfahrungen und sagten: „Ja, ich kenne das“, auch wenn es oft konservativ war. Andere hatten schwierigere Geschichten. Ich habe gehört, dass es viele unproblematische Freikirchen gibt, aber eben auch solche, die sehr problematisch sind. Das Spektrum ist einfach sehr groß.
Der Film Journalist: Interessant ist ja, dass seit Jahren die Kirchenaustritte stark steigen – 2023 verließen mehr als 400.000 Menschen die katholische und etwa 380.000 die evangelische Kirche. Gleichzeitig werden Freikirchen, besonders bei jungen Menschen, immer beliebter. Warum glaubst du, dass das so ist?
Flora Li Thiemann: Es war tatsächlich beeindruckend zu sehen, wie modern viele Freikirchen

aufgebaut sind – ganz anders, als ich Kirche bisher kannte. Es gibt Gemeinschaften, die gezielt junge Menschen ansprechen und mit einem coolen, modernen Image locken: eine Gemeinschaft, Spaß, Zusammenhalt – alles unter dem Motto „Wir verbinden uns mit Jesus.“ Das wirkt auf den ersten Blick total ansprechend, hat aber oft diese missionarische Absicht dahinter, die junge Leute für diese Werte gewinnen will.
Der Film Journalist: Du spielst in „Gotteskinder“ die Hannah – was macht sie aus?
Flora Li Thiemann: Hannah ist ein total liebevoller Mensch, sehr eng verbunden mit ihrer Familie und der Gemeinde. Sie engagiert sich stark, blüht in dieser Freikirchen-Community auf, und das

ist ihr komplettes Wertesystem. Diese Gemeinschaft kann auch etwas Schönes haben, aber alles gerät ins Wanken, wenn etwas nicht ins Weltbild passt – zum Beispiel, wenn man sich in jemanden verliebt, der nicht Teil der Gemeinde ist, oder wenn man homosexuell ist. Dann wird es in diesem Wertesystem als falsch oder krank angesehen und muss angeblich „geheilt“ werden. Das ist natürlich total tragisch. Der Film zeigt, was passiert, wenn ein vermeintlich harmonisches Zusammenleben unter extrem evangelikalen Werten ins Bröckeln gerät, sobald ganz normale menschliche Bedürfnisse aufkommen. Hannah und ihr Bruder hinterfragen das nicht, weil sie an alles glauben, was ihnen beigebracht wurde. Wenn dann etwas nicht reinpasst, denken sie, mit ihnen selbst stimme etwas nicht. Sie wollen ihre Eltern nicht enttäuschen und erst recht nicht Jesus, denn das ist ihre ganze Welt.
Der Film Journalist: „Gotteskinder“ ist der erste Langspiel-Kinofilm von Frauke Lodders. Wie war denn die Zusammenarbeit mit ihr und was macht sie als Regisseurin aus?
Flora Li Thiemann: Es war großartig, mit Frauke Lodders zu arbeiten. Sie hat unglaublich

gründlich recherchiert, sich unter falschem Namen in Freikirchen eingeschleust und sogar vermeintliche Konversionstherapien erlebt, um möglichst authentisch zu bleiben. Schon beim Lesen des Drehbuchs wurde mir schlecht, weil die Geschichte so eindringlich war. Frauke hat uns dabei viel Freiraum gegeben, unsere eigenen Interpretationen der Rollen zu finden und gleichzeitig war die Zusammenarbeit sehr persönlich. Wir hatten durch Corona zwei Jahre Zeit, immer wieder miteinander zu sprechen und uns vorzubereiten. Auch jetzt, wenn wir den Film auf Festivals zeigen, sind wir immer noch viel zusammen unterwegs. Sie vermittelt einem das Gefühl, dass wir den Film wirklich gemeinsam erarbeitet haben, und bezieht alle eng mit ein. Das ist total schön.
Der Film Journalist: Am 30. Januar 2025 startete „Gotteskinder“ in den Kinos. Warum, findest du, sollte man sich den Film unbedingt auf der großen Leinwand ansehen?
Flora Li Thiemann: Ich finde es wichtig, dieses Thema zu zeigen, weil viele Menschen nicht wissen, was in manchen Freikirchen passieren kann. Für Betroffene ist es eine Möglichkeit, sich gesehen zu fühlen. Einige haben mir nach dem Film erzählt, dass sie ähnliche Erfahrungen gemacht haben und sich jetzt verstanden fühlen. Das zeigt, wie real dieser Kosmos ist, auch wenn Außenstehende oft nichts davon mitbekommen. Je mehr Leute darüber informiert sind, desto besser kann man aufklären und darüber sprechen. Mir ist wichtig, dass man erkennt, dass solche problematischen Strukturen tatsächlich existieren, und dass sich Betroffene nicht alleine fühlen. Wenn das Bewusstsein dafür wächst, ist das schon ein großer Schritt.
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