Ist es eine Romanze, ein Thriller, Gesellschaftskritik – oder was ist hier überhaupt echt? Was verbirgt sich hinter Andrew Haighs fünften Spielfilm „All of Us Strangers“, der in der zurückliegenden Award-Saison für mehr als 100 britische und internationale Film- und Festivalpreise nominiert wurde?
Der britische Filmemacher Andrew Haigh hat sich mit seinem neuesten Werk „All of Us Strangers“ erneut einem Stoff gewidmet, der tief in menschliche Beziehungen und Identitätsfragen eintaucht. Basierend auf dem 1987 erschienenen Roman „Ijintachi to no natsu“ des japanischen Schriftstellers Taichi Yamada, der ins Deutsche wörtlich übersetzt „Sommer mit Fremden“ heißt, schafft Haigh einen Film, der zugleich vertraut und neu ist. Denn der Roman Yamadas wurde bereits 1988 von Nobuhiko Obayashi unter dem Titel „Ijin-tachi to no natsu“ verfilmt. International bekannt als „The Discarnates“, erzielte der Film nicht nur in Japan, sondern auch international beachtlichen Erfolg.
Andrew Haigh entschied sich jedoch, nicht einfach ein englischsprachiges Remake des japanischen Films zu drehen. Vielmehr nahm er sich die Freiheit, die Erzählung entscheidend zu verändern und an seine eigene Lebensrealität anzupassen. Während die Hauptfigur Harry in der Romanvorlage und im ursprünglichen Film weiblich ist, änderte Haigh diese Figur in einen Mann um und erzählt daraufhin in „All of Us Strangers“ eine Geschichte, die eine völlig neue Richtung einschlägt.
Darum geht es:
Der introvertierte Autor Adam führt ein einsames Leben in einem fast leeren Londoner Hochhaus, bis eine zufällige nächtliche Begegnung mit seinem geheimnisvollen Nachbarn Harry alles verändert. Harry, ein charismatischer und einfühlsamer Fremder, zieht Adam schnell in seinen Bann. Die beiden kommen sich schnell näher und der sonst so verschlossene Adam findet in Harry einen aufmerksamen Zuhörer, dem er von seiner schwierigen Kindheit und seinen Plänen, ein Buch über sein Leben zu schreiben, erzählt.
Getrieben von der Notwendigkeit, sich seiner Vergangenheit zu stellen, begibt sich Adam auf eine emotionale Reise zu seinem alten Elternhaus. Doch was er dort vorfindet, sprengt die Grenzen seiner Vorstellungskraft. Das Haus scheint unverändert, die Zeit eingefroren. Seine längst verstorbenen Eltern empfangen ihn, als wären sie nie gegangen, keinen Tag gealtert. Adam steht vor einem Rätsel: Ist seine Einsamkeit und Trauer so überwältigend, dass sie seine Wahrnehmung verzerrt?
Die Rezension:
„All of Us Strangers“ ist ein tief introspektives Werk, das sich mit der Bedeutung von Verlust, Liebe und dem Wunsch nach Akzeptanz auseinandersetzt. Andrew Haigh, bekannt für seine einfühlsamen Erzählweisen und seinen Fokus auf komplexe zwischenmenschliche Dynamiken, liefert hier ein Werk ab, das gleichermaßen hypnotisierend wie erschütternd ist. Der Film beleuchtet jedoch nicht nur die persönlichen Verluste und inneren Kämpfe seines Protagonisten Adam, sondern auch größere gesellschaftliche Themen, wie die Herausforderungen der LGBTQ+-Gemeinschaft in einer Welt, die noch immer von Vorurteilen geprägt ist.
Die Stärke von „All of Us Strangers“ liegt in der Art und Weise, wie Haigh emotionale Tiefe durch visuelle Subtilität vermittelt. Von der ersten Szene an wird Adam als ein Mensch gezeigt, der zwischen den Welten schwebt – halbtransparent in einer Fensterscheibe gespiegelt, während der Dunst der Londoner Morgendämmerung seine Konturen verwischt. Diese ästhetische Inszenierung wird zu einem wiederkehrenden Motiv, das die Zerbrechlichkeit und Ungewissheit der Figuren unterstreicht. Das Setting wirkt dabei fast wie ein stiller Charakter, der den emotionalen Ton vorgibt. London erscheint hier nicht als pulsierende Metropole – es ist ein Ort der Anonymität und eine Projektionsfläche für Adams innere Konflikte.
Die Kameraführung spiegelt die emotionale Fragmentierung der Charaktere wider. Adam, der zwischen Vergangenheit und Gegenwart gefangen ist, erscheint oft wie ein Geist in seiner eigenen Welt. Dieses Motiv zieht sich durch den gesamten Film, unterstützt durch ein geschicktes Spiel mit Licht und Schatten. Der Einsatz von Farben und Musik verstärkt die Atmosphäre zusätzlich. Andrew Scott verleiht Adam eine fragile Präsenz, die den Schmerz und die Sehnsucht des Charakters fühlbar macht. Paul Mescal, bekannt aus „Aftersun“, ergänzt ihn mit einer bodenständigeren, aber ebenso nuancierten Darstellung. Besonders hervorzuheben ist die Chemie zwischen den beiden, die in den intimen Szenen eine magnetische Intensität entwickelt.
Haigh zeichnet ihre Annäherung mit einer Feinfühligkeit, die selten im Kino zu finden ist. Besonders beeindruckend ist die Darstellung der körperlichen Nähe, die nie voyeuristisch, sondern stets zutiefst menschlich wirkt. Diese Szenen gehören zweifellos zu den stärksten Momenten des queeren Kinos der letzten Jahre. Neben der Liebesgeschichte ist es jedoch die Beziehung zwischen Adam und seinen Eltern, die den Kern des Films bildet. Claire Foy und Jamie Bell glänzen als Elternfiguren, deren Mischung aus Wärme und Fehlerhaftigkeit Adams komplexe Beziehung zu seiner Vergangenheit greifbar macht.
Die surrealen Begegnungen mit ihnen, die sowohl wie Geistererscheinungen als auch wie lebendige Erinnerungen wirken, verleihen dem Film eine tiefere Dimension. Hier zeigt sich Haighs Geschick, das Publikum auf eine emotionale Reise mitzunehmen, ohne dabei in Sentimentalität abzudriften. Die Szenen mit Adams Eltern sind bittersüß und schmerzhaft zugleich, da sie eine Möglichkeit bieten, längst vergangene Dinge auszusprechen. Die Geschichte entfaltet sich langsam, fast träumerisch und lässt uns in Adams Gedankenwelt eintauchen.
Diese gemächliche Erzählweise in der ersten Stunde kann stellenweise langatmig wirken und fordert Geduld vom Publikum. Doch sobald die beiden Handlungsstränge in der zweiten Hälfte des Films miteinander verwoben werden, entfaltet sich die emotionale Kraft des Werks in voller Intensität. Dabei trägt auch die musikalische Untermalung entscheidend zur Atmosphäre des Films bei. Emilie Levienaise-Farrouchs Kompositionen verbinden Langsamkeit und Spannung, während bekannte Songs wie „Always on My Mind“ und „The Power of Love“ die Szenen emotional unterstreichen.
Fazit:
„All of Us Strangers“ ist ein zutiefst bewegendes Werk, das mit einer Mischung aus Melancholie und Hoffnung zurücklässt. Andrew Haigh gelingt eine visuell-poetische Inszenierung, die sowohl schauspielerisch als auch inhaltlich fasziniert und einer der stärksten Filme des queeren Kinos der letzten Jahre ist.
>>> STARTTERMIN: Ab dem 8. Februar 2024 im Kino.
Weitere Informationen zu „All of Us Strangers“:
Genre: Drama, Romanze
Produktionsjahr: 2023
Laufzeit: 105 Minuten
Altersfreigabe: FSK 12
Regie: Andrew Haigh
Drehbuch: Andrew Haigh
Besetzung: Andrew Scott, Paul Mescal, Jamie Bell und viele mehr ...
Trailer zu „All of Us Strangers“:
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