Kritik zu „Chaos und Stille“: Großstadt im Brennglas
- Toni Schindele
- 4. Juni
- 3 Min. Lesezeit
Anatol Schuster entführt sein Publikum in „Chaos und Stille“ auf eine Reise durch die brüchigen Fassaden urbaner Lebensentwürfe – und wirft dabei Fragen auf, die weit über den Film hinausreichen.

Wenn man sich in der deutschen Filmlandschaft nach frischen Perspektiven umschaut, fällt unweigerlich der Name Anatol Schuster ins Auge. Ein Regisseur, der es versteht, den Blick auf das Alltägliche zu lenken und dabei ungewöhnliche Perspektiven zu finden. Mit „Chaos und Stille“ legt Schuster nun sein jüngstes Werk vor und knüpft an eine Filmografie an, die sich in ihrer Eigenwilligkeit und Experimentierfreude dem Konventionellen stets entzogen hat. Sein neuer Film, der auf dem Warschau Film Festival 2024 seine Weltpremiere feierte, wirft in jedem Fall Fragen auf.
Darum geht es:
Jean, ein ausgebrannter Komponist, und Helena, eine Pianistin, kämpfen darum, ihre Familie mit Musik über Wasser zu halten. Als ihre Vermieterin Klara plötzlich die Miete erlässt, ihren Job hinwirft und in ein Zelt auf dem Dach zieht, löst der radikale Schritt eine unerwartete Kettenreaktion aus.
Die Rezension:
„Chaos und Stille“ von Anatol Schuster ist ein Film, der sich mit den fundamentalen Fragen menschlicher Autonomie auseinandersetzt und dabei die Fragilität individueller Entscheidungen in einer kollektivistisch geprägten Gesellschaft seziert. Musik, Großstadt und Besitz verdichten sich in „Chaos und Stille“ zu einem filmischen Essay über die Widersprüchlichkeiten urbaner Lebensentwürfe. Anatol Schuster liefert keine Lösungen, sondern einen Spiegel für die Ambivalenzen unserer Gegenwart, die er zwischen Chaos und Stille verortet. Die Dachterrasse, auf die sich Klara zurückzieht, wird dabei zur Projektionsfläche einer Gesellschaft, die ihre sozialen Brüche ebenso wie ihre Utopien in sich trägt.

Die Frage, ob ihr Ausstieg ein individuelles Recht oder ein Affront gegen das soziale Gefüge darstellt, zieht sich wie ein roter Faden durch die lose verflochtene Dramaturgie des Films. Die kaleidoskopartige Erzählweise öffnet Räume für Reflexion, läuft jedoch gelegentlich Gefahr, ihre Thesenhaftigkeit zu überdehnen. Einige Passagen wirken eher wie lose Gedankensplitter denn als Teil einer kohärenten Dramaturgie. Insbesondere die Versuche, alle gesellschaftlichen Konflikte in den 86 Minuten Laufzeit unterzubringen, führen mitunter zu einer gewissen Überfrachtung. Die Akustik bildet in gewisser Weise eine zweite Erzählebene. Schuster arbeitet hier mit Brüchen – mal überlagern sich Musik und Stadtlärm, mal tritt beides verstummt zurück, als wolle der Film die Stille selbst hörbar machen.
Gerade diese Tonspur verleiht dem Film eine atmosphärische Dichte, die sich oft der unmittelbaren Deutung entzieht, aber den Bildern eine eigentümliche Tiefe verleiht. Die Kameraarbeit von Julian Krubasik verzichtet auf schnelle Kamerafahrten oder auffällige Perspektivwechsel und setzt stattdessen auf eine klare, unaufgeregte Bildkomposition. Immer wieder nutzt er lange, ruhige Einstellungen, die dem Zuschauenden Raum geben, um in den Blicken, Gesten und feinen Bewegungen der Figuren zu lesen. Diese Bildsprache reflektiert die Themen des Films, indem sie Distanz und Nähe miteinander kombiniert. So wird die Kamera selbst zum Beobachtenden. Farblich dominiert ein kühles, leicht entsättigtes Grau-Blau-Spektrum, das die Bohème-Romantik unterstreicht.

Sabine Timoteo verkörpert Klara mit einer zurückgenommenen Intensität, die das Ringen zwischen Rückzug und Selbstbehauptung greifbar macht. Ihr stilles Spiel und die bewusst reduzierte Mimik erlauben es, die Widersprüche der Figur zu lesen, ohne sie mit Erklärungen zu erschlagen. Helena und Jean, gespielt von Maria Spanring und Anton von Lucke, verkörpern ein Künstlerpaar, dessen Idealismus zunehmend mit den Zumutungen einer kapitalistisch geprägten Gesellschaft kollidiert. Während Helena versucht, zwischen Pragmatismus und künstlerischer Leidenschaft zu balancieren, verkörpert Jean den ungebrochenen Glauben an die Musik als letzte Bastion von Freiheit und Idealismus. Schuster zeichnet diese Figuren mit einer fast zärtlichen Genauigkeit, die ihre Widersprüche nicht auflöst, sondern als Teil einer komplexen Lebenswirklichkeit anerkennt.
Fazit:
„Chaos und Stille“ erkundet den Zwiespalt zwischen individuellem Rückzug und gesellschaftlicher Anpassung. Anatol Schuster bietet keine Lösungen, sondern ein atmosphärisches und feinsinniges Spiegelbild urbaner Widersprüche, bleibt aber inhaltlich stellenweise zu verkopft und fragmentarisch.
>>> STARTTERMIN: Ab dem 05. Juni 2025 im Kino.
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Weitere Informationen zu „Chaos und Stille“:
Genre: Drama
Laufzeit: 86 Minuten
Altersfreigabe: FSK 12
Regie: Anatol Schuster
Drehbuch: Anatol Schuster
Besetzung: Sabine Timoteo, Anton von Lucke, Maria Spanring und viele mehr ...
Trailer zu „Chaos und Stille“:
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