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Kritik zu „Irgendwann werden wir uns alles erzählen“: Der beste deutsche Film 2023!

Aktualisiert: 13. Jan.

In der Zeit des Mauerfalls entfaltet sich die ungewöhnliche Liebesgeschichte zwischen der literaturbegeisterten Maria und dem deutlich älteren Nachbarn Henner. Doch „Irgendwann werden wir uns alles erzählen“ ist weit mehr als ein komplexes Liebesdrama!


Bildnachweis: © Pandora Film / Row Pictures


Mit ihrem Erstlingswerk „Irgendwann werden wir uns alles erzählen“ eroberte Schriftstellerin Daniela Krien 2011 die Herzen von Lesenden weltweit und etablierte sich als bemerkenswerte Stimme in der Literaturszene. Das Echo war nicht nur national, sondern auch international, und es war nur eine Frage der Zeit, bis dieses emotionale Werk seinen Weg auf die große Leinwand finden würde. Erstaunlicherweise vergingen fast zwölf Jahre, bis dieses Potenzial schließlich erkannt und in einen Film transformiert wurde.


Hätte man der Autorin Daniela Krien und Regisseurin Emily Atef zu Beginn der Adaption Glauben geschenkt, so wäre diese Zeitspanne sicherlich kürzer ausgefallen. Atef war nach der ersten Begegnung mit Kriens Roman so überwältigt von dessen Tiefe und Emotionalität, dass sie keinen Zweifel daran ließ: Dies sollte ihr nächstes großes Projekt werden. Doch gelang es ihr, ihre Begeisterung für den Roman auf die Leinwand übertragen?


Darum geht es:


Im Jahr 1990, kurz nach dem Mauerfall in der DDR, pulsiert auf dem Brendel-Hof eine verbotene Leidenschaft: Maria, verträumt und 18 Jahre alt, ist in einer Beziehung mit Johannes. Doch als sie den rätselhaften Henner vom benachbarten Hof trifft, entflammt zwischen ihnen eine magnetische Anziehung. Henners eigenbrötlerischer Charme und Marias Sehnsucht bilden den Nährboden für eine heimliche Affäre. Am Ende steht nicht nur die Frage nach der wahren Liebe im Raum, sondern auch die nach dem Preis, den man für seine Entscheidungen und Sehnsüchte zahlen muss.


Die Rezension:


Emily Atef hat mit „Irgendwann werden wir uns alles erzählen“ einen sowohl visuell wie inhaltlich sehr besonderen Film geschaffen, der sich nicht nur auf die Geschichte einer komplexen Liebesbeziehung zwischen Maria und Henner konzentriert, sondern auch die breiteren gesellschaftlichen und kulturellen Themen, insbesondere die Unterschiede zwischen Ost und West, untersucht.


Bildnachweis: © Peter Hartwig/ Pandora Film / Row Pictures


Das Drehbuch, basierend auf Daniela Kriens Roman, bietet eine reiche und nuancierte Erzählung. Es gelingt, humorvolle Momente über kulturelle Unterschiede und technologische Unterschiede zwischen Ost und West zu integrieren, ohne dabei oberflächlich zu werden. Stattdessen konzentriert sich der Film auf die tieferen Ängste, Hoffnungen und Wünsche der Charaktere, insbesondere von Maria und Henner, die beide mit ihren eigenen inneren Dämonen und den Erwartungen der Gesellschaft ringen.


Darüber hinaus geht „Irgendwann werden wir uns alles erzählen“ über die typischen Coming-of-Age-Themen hinaus. Es ist ein Film, der die Ambivalenz und Unsicherheit der Nachwendezeit einfängt und gleichzeitig eine zutiefst persönliche Geschichte von Liebe, Verlust und Erneuerung erzählt. Die Darstellung der verschiedenen Charaktere, von Marias Mutter Hannah bis zu Johannes, dem ahnungslos Betrogenen, bietet einen umfassenden Einblick in die vielschichtigen Erfahrungen und Emotionen dieser Zeit.


Bildnachweis: © Pandora Film / Row Pictures


Die Liebe zwischen Maria und Henner in „Irgendwann werden wir uns alles erzählen“ ist eine komplexe, faszinierende Darstellung von Leidenschaft und Verlangen, die tief in den beiden Hauptfiguren verwurzelt ist. Regisseurin Emily Atef gelingt es, die Intensität ihrer Beziehung durch geschickt inszenierte Szenen zu vermitteln, die nicht nur die körperliche Anziehung, sondern auch die emotionalen Nuancen dieser ungewöhnlichen Liebe erfassen.


Für den Film wurde jedoch der Altersunterschied von Maria von 16 Jahren auf 18 Jahre angepasst. Diese Entscheidung dient dazu, die Präkarität der Beziehung nuancierter zu gestalten und gleichzeitig zu verhindern, dass der Altersunterschied den Hauptfokus der Geschichte übermäßig bestimmt. Die Anpassung ändert nichts an der Intensität und Komplexität der Beziehung - da noch immer über zwanzig Jahre Altersunterschied zwischen Maria und Henner liegen. Doch nicht nur dieser Aspekt der Beziehung ist provokant; die Liebesbeziehung bleibt auch darüber hinaus ein Diskussionsthema, das nach dem Ansehen des Films weiter vertieft werden kann.


Bildnachweis: © Pandora Film / Row Pictures


Dabei wagt Atef es, die konventionellen Grenzen der Darstellung von Sexualität im Film zu überschreiten, indem sie eine rohe und intensive Kameraführung wählte In diesen Momenten zeigt sich der Film äußerst freizügig, ohne jedoch in die Gefilde eines Soft-Pornos abzudriften. Die Nacktheit wird jedoch keinesfalls als Mittel zur reinen Darstellung sexueller Handlungen genutzt, sondern dient in erster Linie dazu, die Verletzlichkeit und Unmittelbarkeit dieser intimen Momente zu betonen. Besonders bemerkenswert ist dabei, dass der Film nicht vor der Darstellung männlicher Genitalien zurückschreckt, eine ungewöhnliche inszenatorische Entscheidung, die für gewöhnlich in Spielfilmen vermieden wird.


Doch abseits des Äußeren bildet die schauspielerische Leistung von Felix Kramer und Marlene Burow das Herzstück des Films. Felix Kramer verkörpert Henner mit einer rohen Intensität und Tiefe, die das Publikum sofort in den Bann zieht. Sein nuanciertes Spiel verleiht Henner eine zerrissene, aber faszinierende Persönlichkeit, die zwischen rauer Maskulinität und verletzlicher Sensibilität pendelt. Kramers Fähigkeit, die tiefen Emotionen und den inneren Konflikt seines Charakters authentisch darzustellen, verleiht der Beziehung zwischen Henner und Maria eine aufrichtige und greifbare Intensität.


Bildnachweis: © Peter Hartwig/ Pandora Film / Row Pictures


Marlene Burow hingegen brilliert in ihrer Rolle als Maria und bringt eine bemerkenswerte Bandbreite an Emotionen und Nuancen auf die Leinwand. Ihre Darstellung von Maria ist sowohl zart als auch intensiv, wobei sie die komplexe innere Welt ihrer Figur mit beeindruckender Tiefe und Sensibilität zum Ausdruck bringt. Burows Fähigkeit, Marias Verletzlichkeit, Neugier und Entschlossenheit zu verkörpern, ermöglicht es dem Publikum, sich mit ihrer Reise der Selbstentdeckung und des Erwachsenwerdens zu identifizieren. Die Chemie zwischen Burow und Kramer ist elektrisierend und schafft eine überzeugende und mitreißende Dynamik, die das Herzstück des Films bildet.


Beide Schauspieler ergänzen sich perfekt und schaffen es, die Komplexität ihrer Beziehung in einer Weise zu erfassen, die sowohl authentisch als auch ergreifend ist. In dem insgesamt eher wortkargen Film verleiht die Besetzung durch ein ausdrucksstarkes körperliches und mimisches Spiel eine eindringliche Intensität, die durch Dialoge nicht besser vermittelt werden könnte. Das Zusammenspiel von nonverbalem Ausdruck und gewählten präzisen Dialogen schafft eine faszinierende Erzählform.


Neben den beeindruckenden Leistungen von Marlene Burow und Felix Kramer in den Hauptrollen bietet „Irgendwann werden wir uns alles erzählen“ auch eine Palette von Nebendarstellern, die sich im Ensemble hervorragend ergänzen. Jördis Triebel, beispielsweise, verleiht der Rolle von Marias Mutter eine bemerkenswerte Tiefe, indem sie die Ambivalenz und die emotionale Zerrissenheit ihrer Figur ohne viele Worte aber sehr viel mimischer Wucht verkörpert.


Bildnachweis: © Armin Dierolf/ Pandora Film/ Row Pictures


Ein weiteres zentrales Element dieses Films ist die beeindruckende Ästhetik. Atefs Nutzung von Sonnenlicht und Naturbildern erzeugt eine Atmosphäre, die den südlichen Teil Europas in den Sinn ruft, während sie gleichzeitig die spezifischen Landschaften und Räume Ostdeutschlands einfängt. Die Kombination aus naturgegebenen Klängen und einem minimalistischen Soundtrack erzeugt eine fast greifbare Stimmung, die den Zuschauer in die Welt des Films zieht und ihn dort festhält. Die Kameraführung von Armin Dierolf verdient besondere Anerkennung. Durch seine Nähe zu den Charakteren, die oft ruckartige und intime Bewegungen einfängt, wird eine fesselnde Intimität erzeugt. Dies verleiht dem Film eine Authentizität und Intensität, die Zuschauende in die emotionalen Tiefen der Charaktere eintauchen lässt.


Schließlich ist „Irgendwann werden wir uns alles erzählen“ auch ein dringend benötigter Brückenfilm, der aktuell nicht wichtiger sein könnte. In einer Zeit, in der die Debatten über die Spaltung und Einheit Europas und insbesondere Deutschlands wieder aufleben, bietet der Film eine eindringliche Erinnerung daran, dass die Geschichten und Erfahrungen beider Seiten gleichermaßen wertvoll und wichtig sind. Während die Wendezeit filmisch oft in einer Weise idealisiert wurde, die die Lebensrealität vieler ostdeutscher Menschen nicht ausreichend widerspiegelte, nehmen aktuelle Filme diese Perspektive vermehrt mit auf, wie auch äußerst subtil in „Irgendwann werden wir uns alles erzählen“.


Bildnachweis: © Pandora Film / Row Pictures


Maria, von Johannes' Familie aufgenommen, symbolisiert die Unsicherheit und Ambivalenz der Zeit. Diese feinfühlige Dynamik spiegelt die veränderten Zeiten wider: Die Grenzen sind offen, doch die Unsicherheit über den eigenen Platz in der Gesellschaft bleibt, wie in einer bewegenden Szene am Esstisch deutlich wird. Maria enthüllt dabei ihre Erlebnisse aus einem DDR-Jugendlager und das kraftvolle Anstimmen des KZ-Liedes „Wir sind die Moorsoldaten“ dient in gewisser Weise als kathartische Befreiung, die die tiefen Risse und Brüche zwischen den beiden deutschen Gesellschaftsentwürfen am bürgerlichen Esstisch zutage fördert.


»Wir sind die Wandrer ohne Ziele,

Die Wolken, die der Wind verweht,

Die Blumen, zitternd in Todes­kühle,

Die warten, bis man sie nieder­mäht.«

Georg Trakl


Das Finale von „Irgendwann werden wir uns alles erzählen“ kulminiert schlussendlich in einer tiefgreifenden Szene, die die vorangegangenen Handlungsstränge zusammenführt und sicher schockieren wird. Ohne zu viel zu verraten, kann man sagen, dass das Ende des Films eine Wendung nimmt, die dem Film nochmals eine weitere Bedeutung verleiht. Es ist ein wuchtiger Abschluss, der lange nachwirkt und dazu einlädt, über die Grenzen von Liebe, Verlust und Veränderung nachzudenken, ohne jemals endgültige Antworten zu bieten.


Fazit:


„Irgendwann werden wir uns alles erzählen“ offenbart sich als eine eindringliche und tiefgründige Reflexion über menschliche Emotionen während der Wendezeit. Emily Atefs Regie vereint sonnendurchflutete Naturbilder mit zarten Liebesmomenten und Marlene Burow und Felix Kramer brillieren in ihren Rollen, wobei auch die Nebendarsteller durchweg überzeugen. Der Film fesselt, regt zum Nachdenken an und hat eine besondere Note zu den Ost- und West-Unterschieden.


8 von 10 Punkten

Irgendwann werden wir uns alles erzählen“ ist seit dem 13. April 2023 in den Kinos.




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