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Kritik zu „Kingdom – Die Zeit, die zählt“: Vater und Tochter im Bann der Schuld

  • Autorenbild: Toni Schindele
    Toni Schindele
  • 23. Okt.
  • 4 Min. Lesezeit

Ein Sommer auf Korsika. Das Anbranden des Meeres, das unaufhörliche Zirpen der Zikaden, flirrende Hitze – und dazwischen ein Mädchen, das mehr sieht, als es sollte. Darum geht es in Julien Colonnas „Kingdom – Die Zeit, die zählt“.


Szenenbild aus „Kingdom – Die Zeit, die zählt“: Eine junge Frau zielt konzentriert mit einem Gewehr, während ein älterer Mann dicht hinter ihr steht und ihr beim Anvisieren hilft. Beide blicken ernst und angespannt in dieselbe Richtung.
Bildnachweis: © 2025 PROGRESS Filmverleih

Julien Colonna ist kein Neuling im Erzählen, wohl aber im Langspielfilmformat. Der französische Regisseur, Drehbuchautor und Fotograf studierte zunächst Sozialwissenschaften an der Université Paris-IX Dauphine, bevor er sich dem Film zuwandte und ein Drehbuchstudium absolvierte. Mit seinen Kurzfilmen, darunter „Confession“, das in den Slums von Bangkok entstand und auf über zwanzig internationalen Festivals gezeigt wurde, machte er früh auf sich aufmerksam. Für sein Drehbuchdebüt „Équinoxes“ erhielt er beim renommierten Prix Sopadin den „Coup de cœur“-Preis des Magazins Télérama. Mit „Le Royaume“ legt Colonna nun seinen ersten Langspielfilm vor. In Frankreich lief das Werk bereits im November 2024 an, wo es in der Fachpresse vielfach besprochen wurde. Knapp ein Jahr später startet der Film unter dem deutschen Titel „Kingdom – Die Zeit, die zählt“ nun auch in den deutschen Kinos.


Darum geht es:


Korsika flirrt im Licht des Hochsommers, als die 15-jährige Lesia aus ihrem gewohnten Leben gerissen und an einen abgelegenen Ort auf der Insel verschleppt wird, an dem nichts so friedlich ist, wie es scheint. In einer abgeschotteten Villa trifft sie auf ihren Vater – Pierre-Paul, einen gesuchten Mafiaboss, den sie kaum noch kennt. Als ein Anschlag das fragile Gleichgewicht zerstört, beginnt die Flucht durch eine Welt aus Gewalt, Schuld und unausgesprochenen Wahrheiten. Wie nah kann man jemandem kommen, den man fürchten muss – und wie lange, bis man selbst Teil seiner Dunkelheit wird?


Die Rezension:


Julien Colonnas Langfilmdebüt „Kingdom – Die Zeit, die zählt“ betritt ein erzählerisch vermintes Gelände: das Gangsterdrama – kaum ein anderes Erzählmuster ist so aufgeladen mit Traditionen, Konventionen und ikonischen Vorbildern. Gewalt, Macht und Loyalität sind hier längst zu vertrauten Codes erstarrt. Colonna begegnet dieser Erstarrung mit einem bewussten Gegenentwurf. Er nennt sein Werk einen „Anti-Gangster-Film“ – eine klare Abkehr von Glorifizierung, Gewaltlust und Männlichkeitskult. Die vertraute Plotgrammatik bleibt erkennbar, doch Colonna erdet sie durch Alltagsbeobachtungen und ethnografische Präzision. Er erzählt sein Drama mit der Ruhe eines Beobachters: kein Pomp, keine Rachepose, keine Helden. Er siedelt seinen Film im Korsika der 1990er-Jahre an – in einer dörflichen Gemeinschaft, geprägt von Schweigen, Misstrauen und Clanbindungen. Das Drehbuch, das Colonna gemeinsam mit Jeanne Herry schrieb, ist fiktiv und zugleich biografisch aufgeladen: Er ist der Sohn des mutmaßlichen Mafiabosses Jean-Baptiste „Jean-Jé“ Colonna, der 2006 ermordet wurde.


Szenenbild aus „Kingdom – Die Zeit, die zählt“: Eine junge Frau steht mit neutralem, leicht abwesendem Blick in einem Wohnzimmer, umgeben von mehreren sitzenden Männern mittleren und älteren Alters, die ernst und nachdenklich wirken.
Bildnachweis: © 2025 PROGRESS Filmverleih

In Interviews sprach der Regisseur offen über Verlust und Vergeltungsfantasien – Erfahrungen, die seine filmische Haltung spürbar prägen. Seine Bildsprache bleibt konzentriert, zurückgenommen, beinahe dokumentarisch. Die Kamera von Antoine Cormier bleibt nah an den Figuren, vermeidet Pathos und zeigt Gewalt nur indirekt. Die korsische Landschaft – immer wieder in sanftem Morgen- und Abendlicht eingefangen – wird zur Metapher für die Verhärtung einer Gesellschaft, in der Loyalität und Angst untrennbar verwoben sind. Diese Welt wirkt zeitlos, fast mythisch: ein Ort, an dem jeder Schritt alten Regeln folgt. Der Film entfaltet daraus eine stille Bedrohung, die sich mit Lesias kindlicher Wahrnehmung deckt. Ihre Perspektive bestimmt das Tempo: vorsichtig, suchend, tastend. Dadurch erscheinen selbst die Männer des Clans nicht als Monster, sondern als Menschen, gefangen in einem System, das sie selbst erschaffen haben – wie bei Goethes Zauberlehrling, der die Geister ruft, die er später nicht mehr zu bannen vermag.


Die Spannung liegt hier ohnehin weniger im Plot als in den intimen Momenten zwischen Vater und Tochter. In einem langen, ruhigen Gespräch – dem Herzstück des Films – bittet Pierre-Paul seine Tochter um Vergebung, nicht aus Reue, sondern aus der Erkenntnis, dass seine Schuld auf sie übergeht. Diese Szene bündelt die Themen des Films: Verantwortung, Vererbung und den Wunsch, aus einem System auszubrechen, das keine Zukunft kennt. Ghjuvanna Benedetti als Lesia und Saveriu Santucci als Pierre-Paul sind das emotionale Zentrum des Films. Ihre Szenen verleihen ihm die größte emotionale Kraft – keine sentimentale Vater-Tochter-Idylle, sondern eine fragile Allianz, um die man bangt, dass sie sich weiter festigen kann. Benedetti verkörpert Lesia mit stiller Intensität; ihr Blick genügt, um ganze Szenen zu tragen. Zwischen kindlicher Verletzlichkeit und frühreifer Entschlossenheit zeigt sie ein Mädchen, das zu früh Verantwortung spürt, ohne sie wirklich begreifen zu können.


Bildnachweis: © 2025 PROGRESS Filmverleih
Bildnachweis: © 2025 PROGRESS Filmverleih

Ihr Spiel wirkt roh und ungekünstelt. Einzig das Alter der Figur irritiert: Lesia soll 15 sein, Benedetti ist deutlich älter – und das mindert in Momenten die Glaubwürdigkeit, was die Frage aufwirft, warum die Jugend der Figur im Film so explizit betont werden musste. Santucci gestaltet Pierre-Paul als Mann am Rand seiner Macht. In seiner Körperhaltung liegt der Rest alter Autorität, in den Augen Müdigkeit und Schuld. Er ist Täter und Opfer zugleich, zerrieben zwischen Clanloyalität und Vaterrolle. Santucci spielt ihn ohne Pathos, aber mit jener Schwere, die jede Geste auflädt. In der Begegnung mit seiner Tochter wird er verletzlich – als wisse er, dass sein Erbe kein Vermächtnis, sondern eine Last ist. Gemeinsam entwickeln Benedetti und Santucci eine fragile Bindung, in der Liebe und Angst untrennbar miteinander verknüpft sind.


Fazit:


„Kingdom – Die Zeit, die zählt“ ist kein Film über Macht, sondern über deren Erschöpfung. Julien Colonna interessiert sich nicht für die klassische Dramaturgie von Aufstieg und Fall, sondern für die Folgen der Taten. Daraus entsteht – herausragend getragen von Ghjuvanna Benedetti und Saveriu Santucci – ein durch unspektakuläre Momente umso packenderes Vater-Tochter-Drama jenseits des Gangsterdrama-Kitschs.


>>> STARTTERMIN: Ab dem 23. Oktober 2025 im Kino.


Wie hat Dir der Film gefallen? Teile Deine Meinung gerne in den Kommentaren!

Weitere Informationen zu „Kingdom – Die Zeit, die zählt“:

Genre: Drama

Laufzeit: 111 Minuten

Altersfreigabe: FSK 16


Regie: Julien Colonna

Drehbuch: Julien Colonna und Jeanne Herry

Besetzung: Ghjuvanna Benedetti, Saveriu Santucci, Anthony Morganti und viele mehr ...


Trailer zu „Kingdom – Die Zeit, die zählt“:


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