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Kritik zu „Memory“: Ein ruhiger, komplexer Film über Erinnerung und Verdrängung

  • Autorenbild: Toni Schindele
    Toni Schindele
  • 6. Okt. 2024
  • 5 Min. Lesezeit

Der mexikanische Filmemacher Michel Franco ist bekannt dafür, unbequeme und kontroverse Geschichten zu erzählen – sein neuester und mittlerweile achter Spielfilm „Memory“ macht da keine Ausnahme.


Kritik zu „Memory“: Ein ruhiger, komplexer Film über Erinnerung und Verdrängung
Bildnachweis: © Teorema 2023

Geboren 1979 in Mexiko-Stadt, begann Michel Franco seine Karriere zunächst mit Kurzfilmen, bevor er 2009 seinen ersten Langspielfilm „Daniel y Ana“ drehte. Internationale Beachtung fand er 2012 mit dem Drama „Después de Lucía“, das bei den Filmfestspielen von Cannes in der Sektion „Un Certain Regard“ ausgezeichnet wurde. Mit seinen ungeschönten Inszenierungen komplexer menschlicher Beziehungen und gesellschaftlicher Missstände machte sich Franco daraufhin einen Namen in der Filmwelt.


In „Chronic“ beleuchtete er die Pflege Sterbender, während er in „New Order – Die neue Weltordnung“ die soziale Kluft zwischen Arm und Reich in Mexiko thematisierte. Mit „Memory“ setzt Franco seine Tradition fort, tief in menschliche Abgründe zu blicken und Geschichten zu erzählen, die Zuschauende emotional fordern. Dieses Mal geht es, wie es der Titel bereits andeutet, um Erinnerungen, jedoch aus zwei sehr unterschiedlichen Perspektiven.


Darum geht es:


Die alleinerziehende Mutter Sylvia führt ein scheinbar geordnetes Leben als Sozialarbeiterin und kümmert sich aufopferungsvoll um ihre Tochter. Am Abend, an dem diese Geschichte beginnt, sitzt Sylvia allein an einem Tisch bei ihrem Klassentreffen, umgeben von einer feiernden Menge, die gebannt einer mitreißenden Rede lauscht. Doch ihre Gedanken sind woanders. Plötzlich erblickt sie Saul, er tritt näher, lächelt sie an und setzt sich zu ihr. Doch anstatt sich mit ihm zu unterhalten, stürmt Sylvia ohne ein Wort hinaus. Saul folgt ihr, bis zu ihrem Zuhause und steht in der Dunkelheit vor ihrem Fenster.


Kritik zu „Memory“: Ein ruhiger, komplexer Film über Erinnerung und Verdrängung
Bildnachweis: © Teorema 2023

Der Regen prasselt unaufhörlich, doch er bleibt. Mit einem schwarzen Müllsack als Decke, schutzsuchend in einem alten Autoreifen, schläft er vor ihrem Haus. Diese zufällige Begegnung reißt alte Wunden auf. Beide kämpfen mit ihrer Vergangenheit: Sylvia versucht, schmerzhafte Erinnerungen zu verdrängen, während Saul gegen den fortschreitenden Verlust seines Gedächtnisses ankämpft. Doch trotz aller Widrigkeiten kommen sie sich näher. Eine zarte, aber zerbrechliche Beziehung beginnt.


Die Rezension:


Michel Franco liefert mit „Memory“ einen stillen, intensiven und psychologisch tiefgehenden Film ab, der sich mit den Themen Erinnerung, Vergessen und den Auswirkungen von Traumata auseinandersetzt. Dabei bleibt der Film bewusst zurückhaltend und lädt das Publikum ein, Beobachter der inneren Konflikte seiner Figuren zu werden, ohne diese emotional zu überwältigen. „Memory“ ist mehr als ein typisches Drama über Demenz; er greift weiter und verbindet Erinnerungen und Traumata auf subtile Weise miteinander. Im Zentrum des Films stehen Sylvia, gespielt von Jessica Chastain, und Saul, verkörpert von Peter Sarsgaard.


Sylvia, eine Frau, die mit den schmerzhaften Erinnerungen an sexuellen Missbrauch in ihrer Kindheit lebt, kämpft darum, ihre Vergangenheit zu verarbeiten und ihrem Leben wieder eine klare Struktur zu geben. Saul hingegen leidet an Demenz und verliert nach und nach den Zugang zu seinen Erinnerungen. Diese beiden gegensätzlichen Ausgangspunkte kreieren ein faszinierendes Zusammenspiel: Während Sylvia versucht, die schmerzlichen Erinnerungen zu verdrängen, kämpft Saul gegen den Verlust seines Gedächtnisses. Der Film stellt damit die Frage, inwieweit unsere Erinnerungen uns prägen und wie wir uns damit auseinandersetzen, wenn wir entweder zu stark an ihnen festhalten oder sie uns allmählich entgleiten.


Kritik zu „Memory“: Ein ruhiger, komplexer Film über Erinnerung und Verdrängung
Bildnachweis: © Teorema 2023

Sylvias Geschichte verdeutlicht eindrucksvoll, wie prägende Ereignisse aus der Kindheit das ganze Leben beeinflussen können. Der Missbrauch, den sie erlitten hat, wirkt wie ein ständiger Schatten, der sie daran hindert, emotional wirklich frei zu sein. Die Beziehung zu ihrer Tochter ist überbehütend und voller unausgesprochener Ängste. In der psychologischen Forschung ist bekannt, dass Traumata das Erinnerungsvermögen verändern können. Betroffene verdrängen entweder bestimmte Aspekte oder erinnern sich nur bruchstückhaft an Ereignisse, was oft zu Selbstzweifeln und Unsicherheiten führt. Der Film greift diese Unsicherheiten subtil auf und stellt infrage, wie verlässlich unsere Erinnerungen überhaupt sind.


Die Beziehung zwischen Sylvia und Saul bildet den emotionalen Kern des Films. Was zunächst als distanzierte, fast zufällige Begegnung beginnt, entwickelt sich zu einer tiefen, fast tröstlichen Verbindung zwischen zwei verlorenen Seelen. Saul, der aufgrund seiner Demenz oft nicht in der Lage ist, die Vergangenheit zu rekonstruieren, bietet Sylvia einen Gegenpol: Er lebt im Moment, ohne von der Last der Erinnerungen bedrückt zu werden. Diese Unbeschwertheit scheint Sylvia eine neue Perspektive zu eröffnen. Gleichzeitig aber bringt die Beziehung auch Unsicherheiten mit sich: Ist es wirklich gesund für Sylvia, sich jemandem anzuvertrauen, der sich an nichts erinnert? Hier bleibt der Film vage und lässt Raum für Interpretationen.


Franco verweigert sich konsequent jeglicher emotionalen Rührseligkeit. Anstatt die Zuschauenden durch übertrieben sentimentale Szenen zu rühren, setzt er auf eine dokumentarisch anmutende Inszenierung. Die Kamera von Yves Cape bleibt distanziert, fast kalt, und rückt die Charaktere oft nicht ins Zentrum des Bildes. Diese Distanz verstärkt das Gefühl der Isolation und inneren Zerrissenheit, das die Figuren plagt. Gleichzeitig bietet sie dem Zuschauenden Raum, sich eigene Gedanken über das Gezeigte zu machen.


Regisseur Michel Franco:

Kritik zu „Memory“: Ein ruhiger, komplexer Film über Erinnerung und Verdrängung
Bildnachweis: © Teorema 2023

Ein weiterer zentraler Aspekt des Films ist die Frage nach Schuld und Vergebung. Als sich herausstellt, dass Saul möglicherweise an Sylvias Missbrauch beteiligt gewesen sein könnte, stellt sich für beide die Frage, ob Vergebung in einer solchen Situation überhaupt möglich ist. Sauls Demenz bringt eine zusätzliche Komplexität ins Spiel: Wenn er sich nicht an seine möglichen Vergehen erinnert, ist er dann überhaupt für sie verantwortlich? Und kann Sylvia ihm verzeihen, auch wenn sie selbst nie vollständig Gewissheit über die Geschehnisse bekommt?


Die Unzuverlässigkeit von Erinnerungen ist ein wiederkehrendes Thema in „Memory“. Gerade bei traumatischen Erlebnissen ist das Gedächtnis oft lückenhaft oder verzerrt. Dies führt nicht nur bei den Figuren, sondern auch beim Zuschauenden zu einem ständigen Zweifel: Was ist real und was vielleicht nur eine verzerrte Wahrnehmung? Diese Thematik wird im Film auf mehreren Ebenen verhandelt, indem auch die Familien von Sylvia und Saul in die Handlung einbezogen werden und ihre eigenen Erinnerungen in Frage gestellt werden.


Jessica Chastain und Peter Sarsgaard liefern in „Memory“ beeindruckende schauspielerische Leistungen ab. Chastain spielt Sylvia mit einer Intensität, die ihre innere Zerbrochenheit, aber auch ihre Stärke zum Ausdruck bringt. Sie bewegt sich oft am Rande des Zusammenbruchs, ohne jemals in übertriebenes Melodram abzudriften. Sarsgaard hingegen verleiht Saul eine stille Würde und Zärtlichkeit, die seine Demenz umso tragischer macht. Es ist vor allem das Zusammenspiel der beiden, das den Film trägt und ihm emotionale Tiefe verleiht.


Kritik zu „Memory“: Ein ruhiger, komplexer Film über Erinnerung und Verdrängung
Bildnachweis: © Teorema 2023

Technisch ist der Film geprägt von seiner minimalistischen Inszenierung. Die Kameraarbeit hält stets Distanz zu den Figuren und verstärkt das Gefühl der Isolation. Die Farbpalette ist kühl und unterstreicht die bedrückende Stimmung des Films. Die Entscheidung, die emotionalen Konflikte der Figuren nicht durch übertriebene dramatische Mittel zu betonen, sondern sie in leisen, oft fast schon unscheinbaren Szenen zu verhandeln, mag nicht jedem Zuschauenden gefallen, passt aber zur zurückhaltenden Erzählweise des Films.


Fazit:


„Memory“ ist kein einfacher Film. Michel Franco konfrontiert uns mit schwierigen, oft unbequemen Themen, setzt auf stille, subtile Erzählstrategien und verzichtet auf offensichtliche emotionale Rührseligkeit. Dadurch bleibt „Memory“ ambivalent und lässt viele Fragen unbeantwortet. Doch gerade diese Ambivalenz macht Francos achten Langspielfilm zu einem intensiven, wenn auch herausfordernden Filmerlebnis, das noch lange nach dem Abspann im Gedächtnis bleibt.


>>> STARTTERMIN: Ab dem 3. Oktober 2024 im Kino.


Weitere Informationen zu „Memory“:

Genre: Drama

Produktionsjahr: 2022

Laufzeit: 103 Minuten

Altersfreigabe: FSK 12


Regie: Michel Franco

Drehbuch: Michel Franco

Besetzung: Jessica Chastain, Peter Sarsgaard, Brooke Timber und viele mehr ...


Trailer zu „Memory“:


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