Mit sechs Oscar-Nominierungen und begeisterten Kritiken im Vorfeld brachte Todd Field in diesem Jahr seinen dritten und möglicherweise letzten Kinofilm auf die große Leinwand: Ein psychologisches Drama, das die Geschichte der fiktiven Lydia Tár erzählt, der ersten Chefdirigentin eines renommierten deutschen Orchesters. Doch wie gut ist der Film wirklich?
Bildnachweis: © 2022 Focus Features, LLC
Auch wenn seine Filmografie recht übersichtlich ist, hat Todd Field doch einen bleibenden Eindruck in der Filmindustrie hinterlassen und mit nur drei Spielfilmen die Gunst der Kritiker erobert. Obwohl seine Werke keine Kassenschlager waren, erhielten sie überwiegend positive Rezensionen und wurden mehrfach für den begehrten Oscar nominiert. Bereits sein erster Spielfilm „In the Bedroom“ aus dem Jahr 2001 wurde von der Kritik euphorisch gefeiert und bescherte ihm eine erste Oscar-Nominierung für das beste Drehbuch. Anschließend erhielt auch sein nachfolgender Film „Little Children“ aus dem Jahr 2006 viel Lob und erzielte mehrere Oscar-Nominierungen, darunter für den besten Film und die beste Regie. Fast zwei Jahrzehnte nach seinem letzten Film hat Todd Field nun mit „Tár“ erneut eine Geschichte für die große Leinwand geschaffen.
In jedem Spielfilm von Todd Field offenbart sich unverkennbar seine ganz persönliche Handschrift. Nicht nur führt er Regie, sondern er verfasst auch eigenhändig die Drehbücher, die bisher jedes Mal für Oscars berücksichtigt wurden. Kaum hatte die Produktion begonnen, drang die Nachricht durch, dass Cate Blanchett die Hauptdarstellerin werden würde. Später betonte Field, dass für ihn keine andere schauspielerin in Frage gekommen wäre, um die Rolle der Dirigentin Lydia Tár zu verkörpern. Blanchett's Zusage war entscheidend für die Realisierung des Films - ohne sie hätte er das Projekt wieder verworfen.
Darum geht es:
Lydia Tár ist die erste weibliche Chefdirigentin eines renommierten deutschen Orchesters und wird weltweit für ihre herausragenden Leistungen gefeiert. Ihr nächstes Vorhaben ist ein außergewöhnliches Projekt: Die Aufführung der fünften und größten Sinfonie des Komponisten Gustav Mahler, um damit den kompletten Zyklus mit den Berliner Philharmonikern zu vervollständigen.
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Die bevorstehenden wochenlangen Proben stellen sie vor eine enorme Herausforderung, denn obwohl sie als gefeierte und selbstsichere Dirigentin bekannt ist, gerät sie langsam aber sicher in einen Strudel, der nicht nur ihre Schöpferkraft aufs Äußerste herausfordert, sondern sie auch mit Fragen institutioneller Vorurteile konfrontiert – es beginnt eine fesselnde und zugleich gefährliche Reise in die Tiefen ihrer eigenen Seele.
Die Rezension:
Nach jahrelanger Schaffenspause hat sich Todd Field besonders viel Zeit gelassen, um seinen dritten Film zu realisieren, und das Ergebnis ist sein bisher bestes Werk. Es ist eine fesselnde Geschichte über klassische Musik, die die Zeit und ihre Veränderungen und Macht und deren Vergänglichkeit thematisiert, und schließlich in einem cleveren Kommentar zur Cancel Culture münden. Dabei vermeidet der Film einfache Schwarz-Weiß-Malerei und zeichnet stattdessen ein vielschichtiges Porträt unserer heutigen Zeit im ständigen Wandel. Die kunstvolle Inszenierung, die fabelhafte Kameraarbeit und eine herausragende Hauptdarstellerin machen „Tár“ dann zu einem Film, der noch lange im Kopf bleiben wird.
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Bereits zu Beginn des Films wird klar, dass er in vieler Hinsicht speziell ist. So wird der Abspann in gewisser Weise vorweggenommen und präsentiert die Mitwirkenden bereits vor dem eigentlichen Film. Die Handlung selbst beginnt zunächst unscheinbar mit einem Podiumsinterview, das den Fokus auf die Inszenierung eines Mahler-Konzerts zu legen scheint. Doch rasch wird deutlich, dass es eigentlich um den ambivalenten Charakter Lydia Tár geht und die Wirkung, die sie auf die Außenwelt hat. Zunächst wird Lydia Tár dem interessierten Publikum als schillernde Ikone der klassischen Musik präsentiert, doch nicht allzu spät wird ihre Ambivalenz deutlich.
Obwohl die Dirigentin, die das Gendern ablehnt, bereits in einer ihren ersten größeren Szenen den POC-Studenten Max zusammenfaltet, der keine Werke weißer Männer wie Johann Sebastian Bach unterstützen möchte, die in der Vergangenheit frauenfeindlich waren – ungeachtet ihrer musikalischen Größe –, ist Lydia Tár immer noch eindeutig als Protagonistin erkennbar. Doch je tiefer wir in ihren Charakter eintauchen, desto mehr sehen wir ein ambivalentes Bild voller Widersprüche. Schließlich stellt sich uns die Frage: Ist sie es wert, „gecancelt“ zu werden?
Und wann und wie sollten Menschen überhaupt „gecancelt“ werden?
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„Tár“ entfaltet sich jedoch als viel mehr als nur das Porträt einer komplizierten Frau, es wird zu einem facettenreichen Drama, das reale Bezüge in Lydias fiktives Leben einbindet. Die allgegenwärtigen Vorwürfe wegen sexuellen Missbrauchs erhalten in der Welt der klassischen Musik zunehmend Bedeutung und werden zum zentralen Thema. Placido Domingo als Generaldirektor der Los Angeles Opera und James Levin als Musikdirektor der Metropolitan Opera sind die bekanntesten Beispiele von Missbrauchsvorwürfen, an denen sich Todd Field orientiert. Dennoch handelt es sich in dieser Geschichte ausschließlich um spekulative Anschuldigungen, keine erwiesenen Tatsachen.
Dieser Aspekt ist auch die größte Stärke des Films. Denn dadurch überlässt uns das Gezeigte noch immer viel Raum, über Für und Wider nachzudenken, ohne direkt ein festgezurrtes Bild mit moralischen Überzeugungen bewerten zu müssen. So ist der Film auch weder Verurteilung noch Absolution, noch Bagatellisierung oder gar ein plakativer Angstschrei vor der gefährlichen Cancel Culture.
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Cate Blanchett liefert derweil eine Jahrhundert-Performance und verkörpert Lydia Tar auf beeindruckendste Weise. Ihre Schauspielkunst und die nuancierte Darstellung der Charakterentwicklung sind herausragend. Obwohl sie die anderen Darsteller in den Schatten stellt, ist dies kein Problem, da alle Figuren in der Geschichte eher im Hintergrund agieren und dennoch überzeugen. Cate Blanchett gibt Tár durch ihr nuanciertes Spiel eine recht vielschichtige Persönlichkeit, sowohl im Rampenlicht als auch in der Intimität zeigt sie eine Vielzahl von Gefühlen, Leidenschaften und inneren Trieben.
Die aufkommenden Zweifel und die dunklen Aspekte sind fein nuanciert und verleihen dem Film zuweilen einen beinahe abstrusen Hauch von Horror. Das Ende von „Tár“ birgt schlussendlich eine bizarre Pointe, die zunächst humorvoll wirkt, aber auch zum Nachdenken anregt. Der Film stellt viele Fragen und regt dazu an, über die Themen Macht, Tradition und Veränderung in unserer Zeit nachzudenken.
Fazit:
Auf den ersten Blick mag „Tár“ wie ein unscheinbares Musikdrama wirken, und der Film ist tatsächlich nicht episch groß. Doch darunter verbirgt sich ein komplexes und verschlungenes Meisterwerk, das dank der schlicht genialen Cate Blanchett sowie der fantastischen Kameraarbeit und Inszenierung von Todd Field zu einem der herausragendsten Filme des Kinojahres 2023 avanciert.
9 von 10 Punkten
„Tár“ ist seit dem 2. März 2023 in den Kinos.
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