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Dreharbeiten zwischen Brötchen und Brennnesseln: Wie drei Filmstudierende während der Pandemie einen Langfilm drehten

  • Autorenbild: Toni Schindele
    Toni Schindele
  • vor 3 Tagen
  • 6 Min. Lesezeit

Aktualisiert: vor 2 Tagen

Als alles stillstand, sind sie losgezogen. Drei Filmstudierende drehten mitten in der Pandemie ihren ersten Langspielfilm – ganz ohne Fördergelder oder Redaktion. Und schafften es damit bis ins Kinoprogramm.


Dreharbeiten zwischen Brötchen und Brennnesseln: Wie drei Filmstudierende während der Pandemie einen Langfilm drehten
Bildnachweis: © Galli

Zwischen feuchtem Waldboden und moosbedeckten Stämmen richtet Fabienne die Kamera aus. Paul hält den Tonarm über die Szene, trägt Kopfhörer und eine wetterfeste Tasche für das Aufnahmegerät. Einige Meter daneben kniet Janina im Gras, trägt eine himmelblaue Jacke, darunter ein senfgelber Pullover. Es ist ein Sommertag wie viele in jenem Jahr 2021. Das Land ist im zweiten Pandemiejahr. Doch hier draußen wird gedreht. Über Monate hinweg entsteht so – Szene für Szene, Wochenende für Wochenende – ein kompletter Langspielfilm: „Brennnesselbad“. Ein Coming-of-Age-Drama über eine Jugendliche, die zu Fuß durch Hessen wandert, auf der Suche nach einem Ort, an dem sie noch sein kann. Premiere feierte der Film bereits im Mai 2022, jetzt kann man ihn auch im Kino sehen. Doch springen wir rund vier Jahre zurück und in eine Wohngemeinschaft in Dieburg. Das ist eine rund 16.000 Menschen zählende Stadt in Südhessen, etwa 15 Kilometer östlich von Darmstadt, der nächsten größeren Stadt.


Dort wohnen Janina Lutter, Paul Galli und Fabienne Schweers, Filmstudierende im Bachelorstudiengang „Motion Pictures“ an der Hochschule Darmstadt. Ein Filmstudium in

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Bildnachweis: © Galli

Deutschland dauert in der Regel sechs bis sieben Semester und ist stark praxisorientiert. Ab dem zweiten Semester entstehen an vielen Hochschulen regelmäßig Kurzfilme – begleitet von Seminaren zu Regie, Drehbuch, Kamera, Schnitt oder Produktion. Häufig entstehen so pro Semester abgeschlossene Projekte, die im Rahmen von internen oder öffentlichen Screenings präsentiert und für das persönliche Portfolio archiviert werden. Studierende arbeiten dabei in wechselnden Teams und durchlaufen die zentralen Etappen der Filmproduktion: von der Stoffentwicklung über Drehplanung bis hin zur Postproduktion. Gearbeitet wird mit professionellem Equipment, meist in enger Abstimmung mit Lehrenden und teils auch externen Dozierenden. Anfang 2021 wurden diese Arbeitsweisen durch die Pandemie stark eingeschränkt.


Deutschland befand sich im zweiten Jahr der Corona-Pandemie, viele Hochschulen stellten auf Online-Betrieb um, praktische Dreharbeiten waren kaum noch möglich. Laut Monitoringbericht Kultur- und Kreativwirtschaft 2022 sank der Umsatz im audiovisuellen Bereich im Jahr 2021 um rund 13 Prozent. „Wir hatten nur noch Online-Vorlesungen und waren zuhause gefangen, wie alle eben“, erinnert sich Janina Lutter, die ich im Vorfeld des Kinostarts von „Brennnesselbad“ zum Interview traf. „Wir hatten aber so einen starken Drang, irgendwie trotzdem kreativ zu bleiben.“ Die Lösung lag also auf der Hand. Sie drehen in den eigenen vier Wänden erste Kurzfilme. „Das hat uns gezeigt, wie viel kreativen Freiraum man zurückbekommt, wenn man alles selbst macht“, erzählt Janina. „Es ist anstrengend, aber eben auch befreiend.“ Doch irgendwann stellte sich die Frage: Warum nicht einen Langspielfilm drehen? In vielen Bundesländern gelten Kontaktbeschränkungen, die Dreharbeiten mit Teams unmöglich machen.


Doch Janina, Paul und Fabienne leben in einer Wohngemeinschaft – und sind damit offiziell ein

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Bildnachweis: © Galli

Haushalt und als Angehörige eines Haushalts dürfen sie auch während der Kontaktbeschränkungen zusammenarbeiten. Zwischen April und November 2021 wird deshalb fast jedes Wochenende gedreht – ohne klassischen Drehplan und ohne externes Team. „Meistens waren wir einfach zu dritt irgendwo in der Natur. Und dann haben wir am Mittag unsere Brötchen ausgepackt und gegessen, dann haben wir bis abends gedreht und sind wieder nach Hause gefahren. Es war eigentlich immer ein bisschen wie ein Ausflug.“ Was nach improvisierter Leichtigkeit klingt, war dennoch strukturiert vorbereitet. Die Szenen waren klar durchdacht, Drehorte abgestimmt, Auflösungen geplant. „Ich glaube, wenn man das hört, dann klingt das wirklich sehr frei – als wären wir in die Natur und hätten einfach losgedreht. Aber ganz so war es auch nicht. Also, wir wussten schon, bevor wir losgezogen sind, was die Szene ist und welche Kameraeinstellungenen wir drehen.“


Die Methode: kontrollierte Freiheit. Denn frühere Versuche, „komplett frei“ zu drehen, hatten das Gegenteil bewirkt. „Das hat eher eingeschränkt als frei gemacht“, räumt Janina ein. „Weil der Stress viel größer ist. Deswegen hatten wir eigentlich vorher schon die Drehtage ganz gut vorbereitet.“ „Die Grundidee war schon relativ am Anfang klar: Eine Teenagerin reist von ihrer Mutter weg und wandert zu ihrem Vater“, erzählt Janina. „Und es war uns auch bewusst, dass sie ankommt.“ Doch viele Etappen auf diesem Weg wurden erst während der monatelangen Dreharbeiten entwickelt. Jeden Dienstagmorgen, Punkt acht Uhr, treffen sich Janina, Paul und Fabienne in ihrer WG-Küche. Zwischen Kaffee und To-do-Listen wird geplant, überlegt, verworfen und neu gedacht. Welche Szene folgt als nächstes? Was braucht es dramaturgisch – und was ist logistisch machbar? „Wir haben einfach ganz viel rumüberlegt“, erinnert sich Janina. „Was passiert mit der Figur, wo könnte sie als nächstes hingehen, wen trifft sie dort? Es war nicht alles von Anfang an festgelegt, vieles hat sich so richtig beim Machen erschlossen. Wir hatten einfach total Lust, immer weiterzuerzählen.“


Thematisch verhandelt der Film viel, ohne es je plakativ zu machen: familiäre Entfremdung, Trennung, emotionale Kälte – aber auch sexualisierte Grenzüberschreitungen in der Schule und

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Bildnachweis: © Galli

in Beziehungen. „Es sind schon Themen, die uns drei auf irgendeine Art beschäftigt haben“, meint Janina. „Diese Konflikte mit den Eltern, Trennungskind zu sein, seinen Platz in der Welt suchen – aber auch sexuelle Belästigung, und das Gefühl als lesbisches Paar sexualisiert zu werden.“ All das wird in eine fragmentarische Erzählstruktur gegeben. Protagonistin Kim durchquert Wälder, schläft im Freien, landet in einem Dorf, in einem Hostel und begegnet Fremden. „Wir hatten schon auch so ganz grob die Idee, dass wir das in Stationen aufteilen“, erzählt Janina. Zwischen die realen Erlebnisse fügen sich immer wieder illusionäre Einschübe: traumartige Sequenzen, Erinnerungen, innere Bilder. „Das war natürlich auch eine sehr praktische Herangehensweise, wenn man eine lange Geschichte erzählen will, aber meistens nur eine Figur sieht“, berichtet Janina. „Und es passt gut, weil es auch um Traumata geht – Illusionen sind ein interessanter Weg, um zu zeigen, wie sie Dinge aus der Vergangenheit beschäftigen.“


Gedreht wurde mit dem, was da war – und mit Menschen, die an das Projekt glaubten. „Also es hat niemand Gage bekommen, der an dem Film gearbeitet hat“, stellt Janina klar. „Die Leute hinter der Kamera nicht und die Leute vor der Kamera auch nicht.“ Viele Beteiligte kamen aus dem erweiterten Umfeld der Hochschule oder waren befreundete Kreative. Auch bei den Schauspielenden – einige gecastet über Agenturen – war die Bereitschaft groß, Teil des Projekts zu sein. „Wir haben im Prozess gemerkt, dass man die Leute sehr gut begeistern konnte“, erzählt Janina. „Dass sie das einfach cool fanden, dass wir so einen unabhängigen Film drehen und unseren ganzen Sommer damit verbringen.“ Im Mai 2022 feierte „Brennnesselbad“ schließlich Premiere beim Lichter Filmfest Frankfurt International. Dass der Film nun drei Jahre später überhaupt noch den Weg ins Kino fand, kam für das Trio überraschend. „Unser ehemaliger Kommilitone Patrick Büchting hat den Verleih CangerFilms gegründet, und über ihn wird der Film jetzt in die Kinos gebracht.“


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Bildnachweis: (l+r) © Galli

Der durchschnittliche Produktionsetat eines deutschen Kinofilms lag laut FFA im Jahr 2022 bei rund 3,3 Millionen Euro. Wer keine etablierte Produktionsfirma im Rücken hat, keinen Redaktionsanschluss, keine strukturellen Netzwerke, fällt oft durchs Raster – gerade im Nachwuchsbereich. Förderanträge sind komplex, Fristen lang, Anforderungen formalisiert. Für junge Filmschaffende ist der Weg zum eigenen Langfilm damit oft ein strukturelles Hindernisrennen. Laut Branchenumfragen investieren viele Studierende und Debütfilmende in ihre ersten Projekte teils fünfstellige Summen – häufig finanziert durch Eigenmittel, Freundeskreise oder Crowdfunding. Fördergelder fließen meist erst nach komplexen Antragsverfahren, die neben detaillierten Kalkulationen auch Referenzen, Drehbuchfassungen und in vielen Fällen einen bereits involvierten Sender oder Vertrieb voraussetzen. Ohne entsprechende Kontakte oder institutionelle Begleitung ist das für viele nicht zu leisten.


Auch Hochschulprojekte sind begrenzt: Die Mittel pro Semesterfilm schwanken je nach Hochschule und Bundesland, meist zwischen 2.000 und 5.000 Euro – allerdings ausschließlich an großen etablierten Filmschulen wie der Filmuniversität Babelsberg oder der Filmakademie Baden-Württemberg. In allgemeineren Medien-Studiengängen wie „Motion Pictures“ gibt es dagegen gar keine Fördermittel für Projekte. „Brennnesselbad“ entstand als Langspielfilm mit rund 3.000 Euro – größtenteils für Festplatten, Speichermedien und Verpflegung. Eine kleine Crowdfunding-Kampagne brachte den Großteil des Budgets ein. Janina Lutter meinte deshalb auch: „Die Machart der Films spielt eine große Rolle für uns. Uns war wichtig zu zeigen, wie wir auch ohne Förderungen und Redaktion Filme machen können – und welche Geschichten entstehen können, wenn man frei ist von Zwängen, seien es Förder- oder Redaktionsvorgaben.“


Zugleich betont Janina aber auch: „Jetzt gerade während unseres Studiums konnten wir uns das

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Bildnachweis: © Galli

noch leisten. In Zukunft sind wir natürlich auf Fördergelder angewiesen, damit wir und unsere Teams davon leben können. Wir hoffen jedoch, dass Brennnesselbad zeigen kann, dass man uns jungen Filmschaffenden vertrauen kann, eine Geschichte zu erzählen ohne, dass eine Redaktion groß mitreden muss.“ Dass ein solcher Film seinen Weg ins Kinoprogramm findet, ist nicht selbstverständlich – aber möglich. „Brennnesselbad“ läuft derzeit in einigen ausgewählten Programmkinos in ganz Deutschland; wer sich für junge, unabhängige Perspektiven interessiert, sollte einen Blick in das lokale Kinoprogramm werfen – vielleicht ist der Film auch in der eigenen Nähe zu sehen. Denn es sind Filme wie dieser, die zeigen, was entstehen kann, wenn der Drang Filme zu drehen stärker ist als jede Produktionslogik. „Das ist auch eine Hoffnung, die wir jetzt auch für unsere Filmzukunft haben“, sagt Janina. „Dass man sieht: Das Wichtige ist, wer der Mensch ist, der den Film macht – nicht, was die Umstände oder die Mittel sind.“

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