Kerstin Polte im Interview zu „Blindgänger“: „Bomben liegen wortwörtlich noch unter unseren Füßen“
- Toni Schindele
- vor 2 Tagen
- 5 Min. Lesezeit
„Es war von Anfang an klar, dass es ein kaleidoskopartiger Film wird“, sagt Regisseurin Kerstin Polte über ihren neuen Spielfilm „Blindgänger“, der am 29. Mai 2025 bundesweit in den Kinos startet.

Rund eine Viertelmillion Weltkriegsbomben schlummern noch unter unseren Füßen – jedes überraschende Auffinden einer Bombe legt offen, wie nah Vergangenheit und Gegenwart noch beieinander liegen. Genau dieses Spannungsfeld macht Regisseurin und Drehbuchautorin Kerstin Polte zum Ausgangspunkt ihres neuen Spielfilms „Blindgänger“. Nach dem Rodmovie „Wer hat eigentlich die Liebe erfunden?“ und der Serie „Becoming Charlie“ im Offenbacher Plattenbau richtet Polte den Blick diesmal auf Hamburgs Schanzenviertel, wo eine Evakuierung zur Zerreißsprobe wird.
Der Film Journalist: Dein Film erzählt viele Geschichten mit großen Themen. Was war der allererste Auslöser für die Idee zu „Blindgänger“?
Kerstin Polte: Ich habe vor sieben Jahren angefangen. Die allererste Idee entstand damals, zur Zeit der sogenannten Flüchtlingskrise – es kamen mehrere Dinge zusammen. Zum einen habe ich mich intensiv mit meiner eigenen Familiengeschichte beschäftigt, auch mit transgenerationalen Traumata. Ich bin die Jüngste auf der Seite meiner deutschen Familie und habe festgestellt, dass sich bestimmte Muster und Geheimnisse fortpflanzen. Ich habe darüber Bücher gelesen, Familienaufstellungen gemacht und dokumentarisch gearbeitet. Gleichzeitig gab es auch in Berlin immer wieder Meldungen über Bombenentschärfungen – zum Beispiel wurde ein Senior*innenheim evakuiert, weil eine Weltkriegsbombe gefunden wurde. Das hat mich fasziniert: Diese Bomben liegen wortwörtlich noch unter unseren Füßen.
Deshalb habe ich angefangen, zu recherchieren und erfahren, dass es noch etwa eine Viertelmillion Blindgänger in Deutschland gibt. Ich habe mit Kampfmittelräumdiensten gesprochen, die fast täglich ausrücken und dabei ihr Leben riskieren. Dieses Bild – dass wir auf so vielen Bomben sitzen und glauben, der Krieg sei weit weg – fand ich sehr stark, auch symbolisch: für unsere Gesellschaft, für persönliche und kollektive Traumata. So entstand die Idee einer Mutter-Tochter-Geschichte: Die Mutter, die die Bombennächte erlebt hat, weigert sich, das Haus zu verlassen. Die Tochter muss diese Bombe entschärfen – im wörtlichen und im übertragenen Sinn.
Kürzlich habe ich gelesen, dass „Schmerz in Familien weitergegeben wird, bis jemand bereit ist,

ihn einmal zu fühlen und zu transformieren.“ Das war für mich der zentrale Aspekt. Uns – ich sage bewusst „uns“, denn meine Produzentin Andrea Schütte war von Anfang an dabei – ging es um eine Momentaufnahme. Wir wollten das Nebeneinander von Emotionen zeigen: Trauer, Angst, Liebe, Freude – all das, was im Alltag oft gleichzeitig existiert. Mich interessiert diese Komplexität. So kam es zur Handlung und zu der Erzählweise, die sich immer weiter ergänzt und verbunden haben.
Der Film Journalist: Du hast dich für das Schanzenviertel in Hamburg als Schauplatz entschieden – warum gerade dieser Ort?
Kerstin Polte: Es gibt mehrere Gründe. Ich habe lange in Hamburg gelebt, auch wenn ich inzwischen in Berlin wohne. Wir wollten ein Viertel, was dicht besiedelt und sehr durchmischt ist. Die Schanze eignet sich dafür perfekt – da leben viele unterschiedliche Menschen auf engem Raum. Ich mag solche Viertel, weil sie von Vielfalt geprägt sind. Wenn dort eine Bombe gefunden wird, sind viele unterschiedliche Menschen betroffen. Zehntausende müssen von einem Moment auf den anderen ihre Häuser verlassen, ihre kleinen Universen, in die sich viele seit Corona zurück gezogen haben. So ein Ausnahmezustand bringt Menschen auch in Bewegung, an neue Orte, zu Menschen, die sie sonst nie getroffen hätten. Vielleicht braucht es manchmal so eine Erschütterung, um den Kopf zu heben und neue Begegnungen zu machen, die Perspektive zu wechseln.
Und in Deutschland gibt es noch eine Viertelmillionen Bomben – 3000 allein in Hamburg. Wir

hatten früh Kontakt zum Kampfmittelräumdienst. Kurz nach dem Dreh wurde dort tatsächlich eine ganz ähnliche Bombe, mitten im Schanzenviertel gefunden – eine schwierige Entschärfung mit mehreren Anläufen. Mein Handy stand nicht still, alle schrieben: „Kerstin, dein Film wird Realität.“ Wir hatten während des Drehs Mützen mit kleinen Comic-Bomben gemacht, die tauchen im Film auch auf. Ich hatte dem Kampfmittelräumdienst solche Mützen geschenkt und später schickte mir der Chef ein Foto von der echten Entschärfung – alle trugen die Mützen vom Set. Für Hamburg sprach außerdem, dass die Produktionsfirma dort sitzt, die Stadt für mich auch ein Tor zur Welt ist und die dort ansässige MOIN FilmfFörderung uns von Anfang bis Ende bei dem Projekt unterstützt hat.
Der Film Journalist: Die Figuren sind sehr divers – queere, migrantische, traumatisierte, alte und kranke Menschen. Wie wichtig war es dir, diese Vielfalt nicht problemzentriert, sondern selbstverständlich zu erzählen?
Kerstin Polte: Sehr wichtig. Es war von Anfang an klar, dass es ein kaleidoskopartiger Film wird – wir hatten nicht viel Erzählzeit pro Figur, und wir hatten zwei Millionen Euro Budget zu wenig,

um alles zu drehen. Trotzdem sollten die Figuren komplex und vielschichtig sein, eben nicht auf ein Merkmal reduziert. Schließlich sind wir alle Hauptfiguren in unserem Leben. Es geht aber nicht nur um Repräsentation, sonder auch um andere Erzählstrategien, ein mehr-perspektivisches, eher vernetztes Erzählen, wo wir alle Figuren auf einer menschlichen Ebene nachvollziehen können. Sichtbarkeit ist wichtig, ganz nach dem Spruch: Du kannst nicht werden, was du nicht sehen kannst. Eine Ärztin im Rollstuhl auch in einer Nebenrolle zu zeigen, ohne dass es thematisiert wird, ist – leider – heute noch etwas, was wir kaum gesehen haben. Ich erzähle nicht: „Du bist trans“ oder „Du begehrst eine Frau“, sondern lasse es selbstverständlich mitschwingen. Das ist für mich eine intersektionale, queere Erzählweise.
Der Film Journalist: Du hast einmal gesagt, unser soziales Gefüge franst immer mehr aus. Was hoffst du, nimmt man aus dem Kinobesuch von „Blindgänger“ mit?
Kerstin Polte: Leider muss ich sagen: Vor sieben Jahren war die Welt noch eine andere. Damals dachte ich schon, wir müssen uns um unsere „Bomben“ kümmern – heute ist das noch viel dringlicher, auch politisch. Kriege und autoritäre Systeme sind näher gerückt. Es ist wichtiger denn je, sich mit unserer Vergangenheit auseinanderzusetzen. Ich habe Kinder und ich erlebe, wie unsicher diese Welt gerade ist. Viele Menschen empfinden das genauso und bei den Screenings spüre ich: Der Film gibt Hoffnung. Trotz des Ausnahmezustands erzählt er von Solidarität und Miteinander. Viele sagen mir danach: „Ich fühle mich weniger allein. Ich habe weniger Angst. Ich weiß jetzt, dass ich die Hand ausstrecken kann.“
In Hamburg bei der Premiere blieb das halbe Kino sitzen. Ich sage vor dem Film oft: „Guckt mal neben euch. Wer sitzt neben euch? Schenkt der Person mal ein Lächeln, sagt Hallo.“ Und danach reden die Leute miteinander – mit völlig Fremden. Das berührt mich sehr. Ein Freund sagte mir gestern: „Der Film ist wie eine lange Umarmung.“ Und genau das ist es, was ich mir wünsche – dass in dieser rauen Zeit ein Gefühl von Menschlichkeit und Verbundenheit entsteht.
„Blindgänger“ ist seit dem 29. Mai 2025 in den Kinos.
Neugierig geworden? – sieh hier den Trailer:
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