top of page

Kritik zu „Hysteria“: Im Brennglas der Wahrnehmung

  • Autorenbild: Toni Schindele
    Toni Schindele
  • vor 5 Tagen
  • 4 Min. Lesezeit

Aktualisiert: vor 3 Tagen

Wie schnell sich gesellschaftliche Hysterie entfachen kann und welche Dynamiken sie in Gang setzt, all das steht im Zentrum von Mehmet Akif Büyükatalays neuem Film mit dem folgerichtigen Titel „Hysteria“, der nach Aussage des Regisseurs zeigen soll, wie sich genau das vermeiden ließe.


Roter Hintergrund mit einem von Flammen überlagerten Gesicht – Artwork und offizielles Kinoposter zu „Hysteria“.
Bildnachweis: ©filmfaust

Mit seinem Berlinale-prämierten Debütfilm „Oray“ rückte Mehmet Akif Büyükatalay 2019 erstmals in den Fokus der deutschen Filmszene – als Regisseur, der muslimische Identität jenseits gängiger Stereotype erzählte. Sein neuer Film „Hysteria“ knüpft nun daran an, führt die Auseinandersetzung jedoch auf eine neue Ebene: Es geht nicht mehr allein um Repräsentation, sondern um die Mechanismen, durch die sie entsteht. Auch sein zweiter Spielfilm feierte seine Premiere bei der Berlinale – in der Sektion Panorama der 75. Ausgabe – und wurde dort mit dem Europa Cinemas Label Award for Best European Film ausgezeichnet. Es folgten der Spezialpreis der Jury für das Drehbuch beim Hamptons International Film Festival sowie der Sonderpreis der Jury beim Hessischen Filmpreis. Nun startet „Hysteria“ regulär im Kino – im Verleih von Rapid Eye Movies. Lohnt sich der Kinobesuch?


Darum geht es:


Die ehrgeizige Praktikantin Elif will sich beim Dreh eines Films über den rechtsextremen Brandanschlag von Solingen 1993 beweisen. Regisseur Yigit und Produzentin Lilith suchen nach größtmöglicher Authentizität – und engagieren dafür Geflüchtete als Komparsen. Doch als während eines emotional aufgeladenen Drehtags ein verbrannter Koran auftaucht, kippt die Stimmung. Inmitten des Chaos verliert Elif spätabends den Schlüssel zur Wohnung der beiden Filmschaffenden und wenig später verschwinden die analogen Filmrollen, auf denen die heikelsten Szenen gespeichert sind. Plötzlich steht jeder unter Verdacht: War es ein Akt verletzter Eitelkeit, religiöser Empörung oder einfach ein Missverständnis?


Die Rezension:


„Hysteria“ vereint Gesellschaftsanalyse, Paranoia-Thriller, Kammerspiel und Whodunit — doch Regisseur Mehmet Akif Büyükatalay folgt nicht den gewohnten Konventionen der filmischen Detektivlogik. Wie in einem Krimi, dessen Regeln sich mit jedem neuen Hinweis verschieben, geraten zwar alle Beteiligten in ein Labyrinth gegenseitiger Zuschreibungen, doch gesucht wird hier weniger nach Schuld, als viel mehr nach Deutungshoheit: Wer darf erzählen? Wer darf beleidigt sein? Wer setzt den moralischen Rahmen? Besonders brisant ist dabei die Frage, wem Repräsentation nützt — die gewissermaßen Gretchenfrage des Films. „Hysteria“ entlarvt dadurch sowohl die Mechanismen kultureller Aneignung als auch die scheinbare Fortschrittlichkeit eines Systems, das Diversität vor allem dann billigt, wenn sie ökonomisch oder reputativ verwertbar ist.


Nahaufnahme mehrerer Männer in einer angespannten Situation im Freien – Szene aus Mehmet Akif Büyükatalays „Hysteria“.
Bildnachweis: ©filmfaust

Der Vorwurf, migrantische Schauspielende würden häufig auf Opfer- oder Täterrollen reduziert, wird deshalb nicht nur aktiv benannt, sondern auch in doppeltem Sinne aufgebrochen – als realgesellschaftliches Problem wie auch als potenzielles Selbstopferungsnarrativ. Der Film wird so zum Spiegel gesellschaftlicher Mechanismen: Er zwingt uns, in jene Projektionen zu blicken, durch die sich kollektive Hysterie entzündet, ausbreitet und schließlich alles verschlingt. Im Sinne Büyükatalays will das Werk nicht zur Hysterie verführen, sondern vor ihr warnen. Wie Bertolt Brechts Konzept des epischen Theaters, das Denken statt Mitfühlen erzeugen sollte, fordert auch „Hysteria“ zur Reflexion auf: Er macht die Mechanismen sichtbar, durch die Missstände entstehen und ruft dazu auf, sie außerhalb des Kinos nicht zu wiederholen.


Büyükatalay entwirft dafür ein scheinbar unauflösbares Geflecht aus Vorannahmen, Alibis und ideologischen Sackgassen, das messerscharf den Finger in die Wunden des Zeitgeistes legt. Das Drehbuch verschränkt dabei zwei Spannungsachsen: die Karriere-Zwangslage einer jungen Praktikantin in einer gemischtnationalen Crew und die politische Entzündung durch eine bewusst herbeigeführte Koranverbrennung. So entsteht eine Atmosphäre permanenter Überhitzung, in der Misstrauen, Projektion und strategische Selbstinszenierung ineinandergreifen. Was zunächst als Mikrokosmos eines Filmsets beginnt, wächst rasch zu einem dichten Netz aus Verdacht, Machtverschiebung und ethischer Spannung heran – getragen von einer klug konzipierten Hauptfigur und zahlreichen Subtexten. Büyükatalay interessiert sich dabei aber weniger für eine Abrechnung mit Medien oder Politik als viel mehr für die feinen Mechanismen von Macht und Wahrnehmung.


Eine Person in „Hysteria“ steht vor einer hellen Feuerwand und hebt die Hand in Richtung der Flammen.
Bildnachweis: ©filmfaust

Im Zentrum des Films steht die junge Elif – eine Praktikantin zwischen Selbstverleugnung, Leistungsdruck und Identitätssuche. Elif ist keine klassische Heldin, sondern in erster Linie Projektionsfläche: unscheinbar, anpassungsfähig, zwischen den Kulturen navigierend – symptomatisch für eine postmigrantische Generation, die weder ganz hier noch dort verortet ist. Devrim Lingnau Islamoğlu trägt den Film als Elif mit einer bemerkenswert nuancierten Darstellung. Bemerkenswert ist dabei, dass sie in „Hysteria“ erstmals unter ihrem vollständigen Namen im Abspann genannt wird. Nach ihrem internationalen Erfolg als Kaiserin Elisabeth in „Die Kaiserin“ nutzt sie diese Produktion erstmals, um ihre Herkunft sichtbarer zu machen und die türkische Seite ihrer Identität selbstbewusst einzubeziehen – gerade weil sie im deutschen Filmbetrieb häufig weiß gelesen werde.


Dabei nutzt Büyükatalay das Setting eines Filmdrehs nicht bloß als Kulisse, sondern als Bühne für eine Vielzahl ineinander verschachtelter Metaebenen. Figuren wie der exaltierte Regisseur Yigit oder die pragmatische Produzentin Lilith fungieren so auch als kritische Spiegelbilder der Branche. Besonders in der Figur des Regisseurs Yigit verdichtet sich diese Ambivalenz: Einerseits nutzt er die politische Sprengkraft kultureller Kontroversen für seine künstlerische Marke, andererseits verteidigt er sich permanent gegen den Verdacht, nur klischeehafte Diskursware zu liefern. Die Frage, ob seine Empörung aus innerer Überzeugung oder strategischer Selbstpositionierung stammt, bleibt offen. Mustafa und Majid liefern dazu kontrastierende Gegenstimmen zum liberalen Selbstverständnis der Produktionscrew.


Eine junge Frau spricht aufgeregt am Telefon – Szene aus „Hysteria“ von Mehmet Akif Büyükatalay.
Bildnachweis: ©filmfaust

Die Bildsprache von „Hysteria“ ist geprägt von einer dichten, klaustrophobischen Ästhetik: Die Kamera verdichtet die innere Anspannung der Figuren. Licht und Schatten erzeugen gezielt Unsicherheit und machen das latente Misstrauen zwischen den Figuren in nahezu jeder Szene sichtbar. Dabei verstärkt das Sounddesign in entscheidenden Momenten das Unbehagen, ohne je ins Plakative zu kippen. Dass „Hysteria“ dabei Ambivalenz zulässt und zu keinem Zeitpunkt eindeutig Position bezieht, gehört zu seinen größten Stärken, auch wenn der Film im Finale in überdeutlichen Allegorien die zuvor mühsam aufgebaute Mehrdeutigkeit mit einer zu durchsichtigen Zirkelschlusspointe versieht.


Fazit:


„Hysteria“ ist ein raffiniert inszenierter Paranoia-Thriller über die Macht der Wahrnehmung – vielschichtig und ambivalent – getragen von Devrim Lingnau Islamoğlu als Projektionsfigur einer postmigrantischen Generation. Mehmet Akif Büyükatalays zweiter Film liefert weniger Antworten, als dass er präzise Fragen stellt – und trifft damit ins Zentrum gesellschaftlicher Hysterie.


>>> STARTTERMIN: Ab dem 06. November 2025 im Kino.


Wie hat Dir der Film gefallen? Teile Deine Meinung gerne in den Kommentaren!

Weitere Informationen zu „Hysteria“:

Genre: Drama, Thriller, Krimi

Laufzeit: 103 Minuten

Altersfreigabe: FSK 12


Regie: Mehmet Akif Büyükatalay

Drehbuch: Mehmet Akif Büyükatalay

Besetzung: Devrim Lingnau Islamoğlu, Nicolette Krebitz, Mehdi Meskar und viele mehr ...


Trailer zu „Hysteria“:


Kommentare


Abonniere jetzt den Newsletter

und sei immer aktuell informiert!

Danke für's Einreichen!

© 2023 by Make Some Noise.

Proudly created with Wix.com

bottom of page