Yorgos Lanthimos überrascht mit „Kinds of Kindness“ erneut sein Publikum. Nach dem Erfolg von „Poor Things“ ist der griechische Regisseur in seiner neuesten Arbeit noch provokativer, absurder und zynischer.
Das Jahr 2024 scheint das Jahr von Yorgos Lanthimos zu sein. Nachdem der beliebte Arthouse-Regisseur lange vor allem Kritiker verzückte, wurde er durch seinen letzten Film „Poor Things“ endgültig auch einem breiteren Publikum bekannt. Der Film konnte weltweit mehr als 117 Millionen US-Dollar an den Kinokassen einspielen, erhielt furiose Kritiken und war in so gut wie jeder Filmverleihung nominiert – es sollen wohl über 300 Preisnominierungen gewesen sein.
Bei den Oscars war „Poor Things“ elfmal nominiert, auch als bester Film. Diesen Preis konnte der Film zwar letztlich nicht gewinnen, aber dafür gewann Emma Stone als beste Hauptdarstellerin. Mit ihr arbeitete Lanthimos nun auch für seinen nächsten Film „Kinds of Kindness“ zusammen, der bereits nur wenige Monate nach dem gigantischen Erfolg von „Poor Things“ in die Kinos kommt.
Darum geht es:
Ein Mann, der verzweifelt versucht, sein Leben in den Griff zu bekommen; ein Polizist, dessen Frau nach Jahren auf See wie ein völlig neuer Mensch erscheint; und eine Frau, die auf der Suche nach dem zukünftigen spirituellen Führer ist. Drei Schicksale, drei Wege und jede Entscheidung könnte das Leben verändern.
Die Rezension:
In „Kinds of Kindness“ betritt Yorgos Lanthimos gewohnt eigenwilliges Terrain und überrascht sein Publikum erneut mit einer unkonventionellen Erzählweise, die sich nur schwer in die üblichen Genre-Grenzen pressen lässt. Der Film besteht aus drei eigenständigen Episoden, in denen die nahezu selbe Besetzung – Emma Stone, Willem Dafoe, Jesse Plemons, Hong Chao und nicht zuletzt Margaret Qualley – völlig unterschiedliche Rollen verkörpert. Doch was „Kinds of Kindness“ so einzigartig macht, ist nicht nur die episodische Struktur, sondern vor allem die Art und Weise, wie Lanthimos menschliche Beziehungen und Verhaltensweisen auf ihre Essenz reduziert und zur Schau stellt.
Lanthimos dreht völlig frei und bleibt doch erschreckend präzise. Für alle, die „Poor Things“ schon als skurril und bizarr empfanden, treibt Lanthimos seine unverwechselbare Handschrift hier noch weiter auf die Spitze und wird noch sarkatischer und zynischer. Die emotionale Distanz, die er bereits in früheren Filmen kultiviert hat, ist auch hier wieder präsent. Er entwickelt den Charakteren gegenüber eine fast analytische Distanz, durch die das Verhalten und die Entscheidungen der Figuren unter ein psychologisches Mikroskop gelegt werden.
Die Episoden entfalten sich in einem anonymen Amerika der Vorstädte, die Themen drehen sich um das Gefälle zwischen Dominanz und Unterwerfung, welches in sozialen Beziehungen wie der Ehe, dem Arbeitsumfeld und sogar in religiösen Bindungen zum Ausdruck kommt. Dabei schont Lanthimos sein Publikum nicht, sondern setzt provokante und kontroverse Mittel ein, um den Widerspruch zwischen gesellschaftlicher Norm und individueller Freiheit zu betonen. Die Figuren geraten unter Druck, Entscheidungen gegen ihre innere Natur zu treffen, und es ist gerade dieser Verlust der Selbstbestimmung, der den Film mit einer zynischen Schärfe durchzieht.
Diese Verquickung aus Machtmissbrauch, Kontrolle und aufgeladener Abhängigkeit ermöglicht es dem Regisseur, die Grauzonen menschlicher Psyche und Motivation zu erforschen. Lanthimos’ wiederkehrender Drehbuchautor Efthymis Filippou scheint mit jeder Dialogzeile bewusst provozieren zu wollen, indem er die Figuren in ein Netz skurriler Abhängigkeiten verwickelt, das irgendwo zwischen grotesker Karikatur und schmerzhafter Realität balanciert. Während Lanthimos in seinen vorherigen Arbeiten häufig auf extreme Situationen zurückgriff, um den Wahnsinn der menschlichen Natur zu illustrieren, wird in „Kinds of Kindness“ die Absurdität der alltäglichen Beziehungen in den Vordergrund gerückt. Psychologisch betrachtet lässt sich der Film als Studie über das Konzept der bedingungslosen Hingabe oder, in extremeren Fällen, der Selbstaufgabe verstehen.
Lanthimos stellt die Frage, inwiefern Menschen bereit sind, für emotionale Bindungen – sei es aus Liebe, Loyalität oder einfach aus sozialen Erwartungen – ihre eigenen Bedürfnisse aufzugeben. Dies zeigt sich in drastischen Momenten: Figuren gehen über körperliche und moralische Grenzen hinweg, sei es durch Selbstverletzung oder schockierende Treuebeweise, die ans Unerträgliche grenzen. Solche Szenen offenbaren die Schattenseiten menschlicher Psychologie, wo Kontrolle und Macht oft maskierte Formen der Verletzlichkeit und Einsamkeit darstellen. Durch diese emotionale Auszehrung gelingt es dem Film, eine unbehagliche Intensität zu erzeugen, die nicht nur die Figuren, sondern auch die Zuschauenden an die Grenzen ihrer moralischen Überzeugungen führt.
Das starbesetzte Ensemble ist dabei die Triebfeder dieser skurrilen Parabel, das in jeder Szene mit Spielwitz und Präsenz in ihren Bann zieht. Egal wie absurd eine Situation scheint – Emma Stone und Co. gehen hier voll in ihren Rollen auf und spielen sie mit so viel Ernsthaftigkeit in aller Komik, dass es große Freude bereitet, ihnen dabei zuzusehen. Ästhetisch ist „Kinds of Kindness“ ein filmisches Erlebnis, das eine einzigartige Bildsprache erhält. Gedreht auf 35mm-Film, sorgen Kameramann Robbie Ryans Bilder für eine Atmosphäre, die gleichermaßen stilisiert wie eingrenzend wirkt. Die weitläufigen, oft monochromen Bildkompositionen, gepaart mit gezielt eingesetzter Musik, erzeugen einen Rahmen, der die Figuren wie in einem Käfig erscheinen lässt. Obwohl „Kinds of Kindness“ in der Gegenwart angesiedelt ist, schafft Lanthimos eine visuelle Welt, die unsere Realität oft weit übersteigt.
Die Komposition jedes Bildes, die sorgfältig gewählte Kleidung der Figuren und die pointierte musikalische Untermalung – insbesondere die kraftvollen, choral durchzogenen Einsätze – sind akribisch abgestimmt. Lanthimos beweist erneut, dass seine Bildgestaltung ebenso präzise wie provokativ ist, wodurch „Kinds of Kindness“ seinem Vorgänger „Poor Things“ visuell in nichts nachsteht. Was direkt hervorsticht, ist der Einsatz des Songs „Sweet Dreams“ von den Eurythmics, der den Film thematisch einleitet und zugleich eine ironische Vorlage gibt: „Some of them want to use you / Some of them want to get used by you“ – diese Stelle im Liedtext ist bereits das Leitmotiv der Geschichte. Die verzweifelten Versuche, Kontrolle über ihre Lebensumstände zu gewinnen, führen oft zu absurder Komik und schockierenden Wendungen.
Ein Erfolgsduo: Yorgos Lanthimos und Emma Stone
Lanthimos nutzt diese unvorhersehbaren Momente, um das Publikum nicht nur zu unterhalten, sondern auch zum Nachdenken anzuregen. Indem er seine Figuren in absurde, oft groteske Situationen bringt, zeigt er die Brüche im menschlichen Verhalten und stellt die Frage, wie weit Menschen bereit sind zu gehen. Ob eine Kannibalismus-Anspielung oder eine Szene, in der der Zynismus der Figuren ins Unerträgliche geht – „Kinds of Kindness“ will kein Wohlfühlkino bieten, sondern zielt darauf ab, das Publikum in eine moralische Grauzone zu entführen. Diese Provokation ist jedoch nie ohne Ziel: Sie dient dazu, die moralische Flexibilität der Gesellschaft kritisch zu hinterfragen. Während die Episoden für sich stehen, wird ihre Gesamtheit zu einer tiefgreifenden Analyse menschlicher Beziehungen und der Absurditäten, die sie prägen.
Fazit:
Yorgos Lanthimos kombiniert absurde Komik, hemmungslose Provokation und philosophische Tiefe zu einem einzigartigen Kinoerlebnis. In fast drei Stunden entfaltet sich eine komplexe Parabel über Macht und Unterwerfung, Dominanz und Abhängigkeit – messerscharf inszeniert und brillant gespielt.
>>> STARTTERMIN: Ab dem 4. Juli 2024 im Kino.
Weitere Informationen zu „Kinds of Kindness“:
Genre: Drama, Komödie
Produktionsjahr: 2023
Laufzeit: 165 Minuten
Altersfreigabe: FSK 16
Regie: Yorgos Lanthimos
Drehbuch: Efthymis Filippou, Yorgos Lanthimos
Besetzung: Emma Stone, Jesse Plemons, Willem Dafoe und viele mehr ...
Trailer zu „Kinds of Kindness“:
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