Alexandros Avranas im Interview zu „Quiet Life“: „Hoffnung muss manchmal außerhalb des Gewohnten gesucht werden“
- Toni Schindele
- 23. Apr.
- 5 Min. Lesezeit
„Ich dachte, es ist wie Science-Fiction“, sagt Alexandros Avranas über seine erste Begegnung mit dem Resignationssyndrom. Was vor rund sieben Jahren mit dem Lesen eines Zeitungsartikels begann, hat nun den Film „Quiet Life“ hervorgebracht.

Ein Kind liegt still auf einem Bett. Die Augen geschlossen, die Muskeln schlaff, keine sichtbaren Verletzungen, keine körperliche Erkrankung. Es ist nicht bewusstlos, aber nicht ansprechbar. Was hier wie ein medizinisches Rätsel wirkt, ist in Schweden seit Anfang der 2000er-Jahre dokumentierte Realität: das sogenannte Resignationssyndrom. Es wurde erstmals in größerem Umfang bei geflüchteten Kindern beobachtet, insbesondere aus Regionen des ehemaligen Jugoslawiens. Diese Kinder fielen nach der Ablehnung ihres Asylantrags in einen katatonieähnlichen Zustand – ein Phänomen, das seither mehrfach dokumentiert wurde.
In der medizinischen Literatur wird das Syndrom als psychogen klassifiziert. Als Auslöser gelten extreme seelische Belastung, existentielle Bedrohung und das Gefühl völliger Hoffnungslosigkeit. Der griechische Regisseur Alexandros Avranas, international bekannt durch
den vielfach ausgezeichneten Film „Miss Violence“, hat sich diesem Thema in seinem aktuellen Werk „Quiet Life“ gewidmet. Der Film erzählt die Geschichte einer vierköpfigen russischen Familie, die nach einem Mordanschlag auf den Vater nach Schweden flieht. Als ihr Asylantrag abgelehnt wird, verfällt die jüngere Tochter in einen apathischen Zustand.
Der Film Journalist: Was haben Sie damals gedacht, als Sie 2018 zum ersten Mal vom Apathie-Syndrom lasen?
Alexandros Avranas: Ich war mir zuerst unsicher, ob es wahr ist oder nicht, als ich es gelesen habe. Ich dachte, es ist wie Science-Fiction und ich glaube, man kann es auch im Film spüren, dieses Gefühl von Dystopie. Als ich wusste, dass es echt ist, habe ich habe sofort mit meinem Co-Autor Stavros Pamballis gesprochen und wir haben angefangen zu schreiben. Wir haben viel recherchiert, zuerst online, weil Corona uns einschränkte. Vor Ort haben wir uns mit Migrationsbehörden, juristischen Aspekten, dem Syndrom selbst, der schwedischen Denkweise und dem gesamten Migrationssystem beschäftigt. Daraus entstand dann diese Version des Drehbuchs.
Es war ein langer Prozess mit vielen unterschiedlichen Ansätzen. Für einen griechischen

Regisseur ist es nicht einfach, Filme auf Russisch und in Schweden zu drehen. Der einzige Zugang war über den menschlichen Aspekt: Hoffnung, elterliche Liebe und das gesichtslose System. Ich habe eine starke Verbindung zur griechischen Tragödie. Man spürt das im Film – es geht um Moral, soziale Klassen, um den Wert menschlichen Lebens und um das System, in dem wir leben. All diese Ideen finden sich bereits in der griechischen Tragödie. Das ist auch mein Ansatz in allen Filmen – sehr griechisch, auf eine europäische Weise. Das Potenzial dafür ist immer da.
Der Film Journalist: Warum erzählen Sie diese Geschichte ausgerechnet über eine aus Russland geflüchtete Familie in Schweden?
Alexandros Avranas: Wir haben die russische Staatsbürgerschaft für die Geschichte gewählt, weil zur Zeit um 2018 die meisten Fälle russische oder postsowjetische Herkunft hatten. Als wir mit dem Schreiben begannen, war Russland noch nicht so politisch aufgeladen – niemand sah es als Bedrohung, obwohl man wusste, was dort geschah. Aber niemand sprach darüber. Wir fanden UN-Berichte mit 48 Seiten über Menschenrechtsverletzungen in Russland: gegen Homosexualität, gegen Meinungsfreiheit, mit über 5.000 verbotenen Büchern, darunter Werke von Thomas Mann, Victor Hugo, Platon und Aristoteles. Das erinnerte uns an die Zeit des Nationalsozialismus, als Bücher verbrannt wurden und Meinungsfreiheit unterdrückt wurde. All das floss in unsere Entscheidung ein – zusammen mit der Realität, dass die meisten Fälle
aus Russland stammten. Deshalb entschieden wir uns für diese Nationalität.
Der Film Journalist: In „Quiet Life“ wirkt die Darstellung der Bürokratie teils kafkaesk – wie stark stützt sich dieses Bild auf reale Recherchen?
Alexandros Avranas: In meinem Kino kommt alles aus der Realität. Wir haben Gesehenes ein wenig überhöht oder dystopisch dargestellt. Am Ende ist es nicht wichtig, ob es Schweden ist oder ein anderes Land. Es geht um das System und die Menschen, die versuchen, ihr Leben zu retten. Schweden war deshalb relevant, weil das Syndrom dort seinen Ursprung hatte und die meisten Fälle dort auftraten. Außerdem galt Schweden lange als Modellstaat für Geflüchtete. In Ländern wie Griechenland, Italien oder Spanien kommen die meisten Geflüchteten an, aber die wenigsten schaffen es nach Schweden, Deutschland oder Frankreich. Alles, was man im Film sieht, ist zu 95 Prozent wahr. Einzig die Frist zur Berufung haben wir von drei Wochen auf zehn Tage verkürzt – eine poetische Freiheit für den Film. Der Rest basiert auf realen Gegebenheiten.
Der Film Journalist: Nun ist der Film nicht politisch im klassischen Sinn – aber doch politisch in seinem Effekt. Wo verorten Sie persönlich die Grenze zwischen einem humanistischen Drama und einer systemischen Anklage?
Alexandros Avranas: Wenn es um Griechenland ginge, hätte ich kein Problem, die eigene

Regierung zu kritisieren. Aber ich erzähle Geschichten über das Menschliche – als Mensch, Regisseur, Künstler. Es geht nicht gegen Schweden oder Russland. Diese Länder sind nur Beispiele. In Zukunft wird es neue Gründe für Flucht geben – Klimawandel, Kriege, wirtschaftliche Krisen. Es geht um das System, das wir geschaffen haben, um uns zu dienen, das wir aber letztlich selbst bedienen. Wir müssen über Menschlichkeit, Hoffnung und Mitgefühl nachdenken. Politische Korrektheit und Regeln wirken zunehmend mechanisch. Politisches Kino bedeutet heute nicht mehr ideologisches Lagerdenken wie früher. Opposition und Haltung finden sich in kleinen Details.
Der Film Journalist: Was aber sagt „Quiet Life“ dann über das Verhältnis zwischen westlicher Selbstwahrnehmung und humanistischer Verantwortung aus?
Alexandros Avranas: Das Problem beginnt, wenn jemand anderen davon überzeugt, er verdiene es, Bürger zweiter Klasse zu sein. Sobald man sich entscheidet, Geflüchteter zu sein – oder es sein muss –, wird man als solcher wahrgenommen. Es wird immer Länder mit besseren Systemen geben – oder gesichtslose Systeme. Schweden ist ein gutes Beispiel: Man geht zur Migrationsbehörde, stellt einen Asylantrag, bekommt einen Anwalt. Gemeinsam mit einem Beamten schreibt man die Begründung. Wenn man einen Pass hat, darf man arbeiten, solange
der Asylantrag geprüft wird. Die entscheidende Person, die das Verfahren abschließt, trifft man nie. Sie prüft die Akte und entscheidet. Die Entscheidung wird von einer dritten Person mitgeteilt. Wenn das nicht gesichtslos und unmenschlich ist, weiß ich nicht, was es ist. Dieses System soll Klarheit schaffen – es geht nicht um Emotionen, Mitgefühl oder Menschlichkeit. Jemand, den man nie trifft, entscheidet über das eigene Leben. Und bis dahin – das kann bis zu zwei Jahre dauern – lebt man in einem Zustand des Wartens. Das ist die Realität. Nenn es, wie
du willst – aber es ist so.
Der Film Journalist: Wie kam es zur Besetzung mit Chulpan Khamatova und wie war der Casting-Prozess für die beiden jungen Hauptdarstellerinnen?
Alexandros Avranas: Der Film sollte ursprünglich 2022 gedreht werden – mit russischem Geld.

Nach dem Einmarsch in die Ukraine entschieden wir uns, Stellung zu beziehen, lehnten das Geld ab und verschoben das Projekt. Wir begannen, Schauspielerinnen und Schauspieler zu suchen, die nicht mehr im Land waren. Chulpan Khamatova war selbst geflüchtet und fand das Projekt sofort spannend. Dann suchten wir sechs Monate lang jemanden, der neben ihr bestehen kann – das war Grigori Dobrygin. Für die Kinder begannen wir schon 2021, in Lettland, Estland, Litauen, Polen und anderen Ländern russischsprachige Kinder zu suchen. Unsere Casting-Direktorin in Estland führte viele offene Castings durch. Am Ende hatten wir 300 bis 400 Kinder. Wir reduzierten die Zahl und ich machte mit 80 Kindern einen fünftägigen Workshop. An den letzten zwei Tagen waren auch die Eltern dabei.
Der Film Journalist: Was würden Sie sich wünschen, dass das Publikum aus „Queit Life“ mitnimmt?
Alexandros Avranas: Das Problem unserer Zeit ist auch, dass wir in den sozialen Medien ununterbrochen durch Nachrichten scrollen. Man sieht 2.000 Inhalte an einem Tag, aber am Ende bleibt nichts. Wir sehen nicht wirklich hin. Es fehlt an Mitgefühl, Menschlichkeit – und Hoffnung. Hoffnung muss manchmal außerhalb des Gewohnten gesucht werden. Das sagt der Film. Wir müssen beginnen, Menschen wirklich zu sehen – nicht nur anschauen und weitergehen. Das ist die Botschaft.
„Quiet Life“ läuft ab dem 24. April 2025 im Kino.
Neugierig geworden? – sieh hier den Trailer:
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