Derya Akyol im Interview zu „Euphorie“: „Alles war geil daran: die Spielmöglichkeiten, die Story – ein Traum für mich als Schauspielerin“
- Toni Schindele
- vor 9 Stunden
- 7 Min. Lesezeit
„Nach heftigen Szenen habe ich es dann weggeklatscht, weggetanzt oder abgeschüttelt“, erzählt Derya Akyol im großen Interview zur RTL+-Serie „Euphorie“, die einen schonungsloses Blick auf das Erwachsenwerden der heutigen Jugend zwischen Drogenrausch, Sehnsüchten und inneren Abgründen wirft.

Die Faszination für „Euphoria“ ist ungebrochen. Kaum eine Serie der letzten Jahre hat den Nerv einer ganzen Generation so schonungslos offengelegt wie das US-Format von HBO, das auf der gleichnamigen israelischen Vorlage basiert. Mit seiner kompromisslosen Erzählweise, den intensiven Figuren und einer visuell wie musikalisch außergewöhnlichen Gestaltung hat „Euphoria“ Maßstäbe gesetzt – und Diskussionen über Themen wie Drogenmissbrauch, Identität, Sexualität und mentale Gesundheit weit über die Grenzen der Popkultur hinaus angestoßen. Zendaya erhielt für ihre Hauptrolle als Rue Bennett gleich zweimal den Emmy, und längst gilt die Serie als eines der prägendsten Jugenddramen unserer Zeit. Nun kommt die Geschichte, die bereits in Israel und den USA für Aufsehen sorgte, auch nach Deutschland.
Unter dem Titel „Euphorie“ produzierte Zeitsprung Pictures eine achtteilige Neuauflage für RTL+,

die die gleichen existenziellen Fragen stellt wie das Original – nur diesmal aus einer deutschen Perspektive, um die Lebensrealität junger Menschen hierzulande erfahrbar zu machen. Im Zentrum steht Derya Akyol, die viele bereits aus der Synchronfassung von „Euphoria“ kennen, wo sie Ashtray ihre Stimme lieh. Nun übernimmt sie mit Mila ihre bislang größte Rolle vor der Kamera. Wie ihr Weg zur begehrten Hauptrolle der deutschen Neuauflage war, welche Unterschiede sie zwischen Synchronarbeit und Schauspiel vor der Kamera sieht und warum „Euphorie“ gerade jetzt so wichtig ist, darüber spricht Derya Akyol hier im Interview.
Der Film Journalist: Für die deutsche Synchronisation der US-Version von „Euphoria“ warst du bereits als Ashtray zu hören. Hast du die Serie darüber hinaus auch verfolgt oder vielleicht im Zuge der deutschen Neuauflage noch einmal nachgeholt?
Derya Akyol: Ich habe die Serie damals nicht komplett geguckt, aber wir hatten voll sweet damals schon nach den Synchroaufnahmen einen Projektabschluss, wo wir als Team gemeinsam Rollschuh fahren gegangen sind. Richtig geguckt habe ich die Serie aber erst, nachdem ich für „Euphorie“ besetzt wurde. Aber relativ früh – um vom Vergleich wegzukommen und um wieder etwas Eigenes zu finden und nichts zu kopieren.
Der Film Journalist: Wie verlief denn dein Weg zur Hauptdarstellerin der deutschen Version?
Derya Akyol: Ich hatte mehrere Castings und fand schon die erste Castingszene so cool, dass ich

richtig Bock auf die Rolle hatte. Da es so ein Riesencasting war, dachte ich allerdings erstmal, das wird wieder eine Rolle, die eh nicht klappen wird. Mit jeder Castingrunde hab ich mich mehr in die Rolle und die Serie verliebt und die Hoffnung wuchs immer mehr, wirklich eine Chance auf die Rolle zu haben. In dem Moment, als ich vor der finalen Castingrunde alle Drehbücher zugeschickt bekommen habe, wollte ich die erstmal nicht weiterlesen. Ich dachte nur, ich würde dann zu traurig werden, wenn es nicht klappt. Alles war geil daran: die Spielmöglichkeiten, die Story – ein Traum für mich als Schauspielerin. Am meisten hat mich an den Drehbüchern das Pure, Ehrliche gereizt, das Unverstellte und Authentische. Es ist alles so real geschrieben. Und auch die Vielfalt, was alles drinsteht und was ich alles spielen dürfen sollte.
Der Film Journalist: Viele kennen dich bisher vor allem als Synchronschauspielerin. Jetzt, wo du dich immer mehr vor die Kamera wagst: Welche Unterschiede erlebst du persönlich zwischen Mikrofon und Kamera?
Derya Akyol: Vor der Kamera erlebt man auf jeden Fall viel mehr und lebt die Gefühle der Figur auch physisch voll aus. Was teilweise aber auch echt anstrengend ist, wenn man monatelang von morgens bis nachts am Set ist und nur zum Duschen und Schlafen „privat“ ist. Ein psychischer und physischer Rollen-Ein- & Ausstieg ist da unbedingt notwendig. Synchron ist da viel schneller. Man beschäftigt sich nicht so intensiv mit der Figur und hätte in den sieben Monaten, in denen ich Mila gespielt habe, bestimmt 100 Rollen beim Synchronsprechen spielen können. Jedoch habe ich durch die Synchronarbeit seit Kindheit an schon sehr schnell die Disziplin und Arbeitsroutine gelernt und das sehr schnelle Switchen und Abrufen von Emotionen, was vorm Mikro essenziell ist. Du siehst da einen Take zum ersten Mal, die Rolle heult und du hast vielleicht fünf Sekunden Zeit, um jetzt diesen Take ebenfalls authentisch emotional heulend zu spielen – und du kannst dazu nur deine Stimme benutzen.
Am Set war auch nicht immer sehr viel Zeit. Es kann sein, dass nach einer voll happy Szene

direkt eine Zusammenbruch-Szene kommt. Und da muss die Emotion dann einfach da sein. Die Arbeit vor der Kamera wiederum hilft mir auch sehr im Synchronbereich, die Rollenarbeit der Originalschauspieler noch besser und tiefer zu verstehen und meinen Rollen, denen ich meine Stimme verleihe, auch aus Respekt vor den Schauspielern selbst, nichts wegzunehmen und umso präziser meine Stimme zu verleihen. Sodass im besten Fall nicht erkennbar ist, ob es jetzt auf Deutsch gedreht wurde oder synchronisiert wurde und die Stimme „aus dem Gesicht kommt“ – und nicht in etwa draufgelegt klingt. So oder so sind beide Branchen eine ganz eigene Kunstform des Schauspielens für sich mit ganz unterschiedlichen Herausforderungen.
Der Film Journalist: Die Protagonistin von „Euphorie“ ist die 16-jährige Mila. Wie bist du an diese Figur herangegangen und gab es Momente, in denen du bewusst Parallelen zu Zendayas Rue gesucht oder vermieden hast?
Derya Akyol: Ich habe die Figur, so wie ich jede neue Rolle anlege, ganz neu entdeckt und bewusst versucht, überhaupt gar nichts zu kopieren, denn Rue und Mila sind komplett andere Personen, und wenn man bloß versucht, etwas zu kopieren, kann man nur verlieren. Bei der Vorarbeit habe ich mich erstmal sehr viel mit Psychologie beschäftigt und reingelesen: Thema Panikattacken, Depression, auch versucht zu verstehen, wieso jemand überhaupt drogenabhängig wird. Denn Drogensucht heißt nicht immer direkt Absturz und Junkie, sondern ist ebenfalls ein Krankheitsbild und viele greifen zu Drogen, die eine Lücke stopfen möchten.
Ich habe mir eine Playlist erstellt für Mila, die ich mir morgens beim Kostümanziehen immer angehört habe, diverse Übungen, als Mila mir Sachen aufgeschrieben und jedes Detail in ihrem Leben versucht zu verstehen und nachzuvollziehen, bis ich sie in mir gespürt habe und in- und auswendig kannte und abrufen konnte. Der Vergleich zu Zendaya ist krass. In einen Satz gebracht zu werden mit so einer Hollywood-Ikone, die ich sehr bewundere und respektiere, hätte ich mir nicht erträumen können. Es erfüllt mich mit Stolz, andererseits ist sie trotzdem Zendaya und ich Derya – und ich möchte etwas Eigenes schaffen.
Der Film Journalist: Jetzt ist Mila auch eine ziemlich krasse Rolle. Wie hast du dich auf die Szenen mit Drogenkonsum und Exzessen vorbereitet?
Derya Akyol: Ich habe mir jede Droge einzeln angeschaut und recherchiert, was jede Droge wirklich mit einem macht. Wie verändert sich die Stimme, der Gang, die Augen, der Kiefer. Wie

sind die authentischen Abläufe. Wir haben eine Art Drogen-Workshop dann zusammen mit unserem DOP Jonny gemacht, wie etwas auf der Kamera wirkt und um Sachen auszuprobieren. Natürlich ohne in echt etwas zu konsumieren. Ich habe mir auch viele Videos auf YouTube und TikTok reingezogen und im Körper gespürt und anschließend gemerkt, wo ich welche Droge spüre und wie ich sie immer wieder abrufen und weglegen kann, ohne in echt etwas zu probieren. Für die extremen Szenen, die vor allem ab dem Einbruch vom Herbst im letzten Jahr immer mehr wurden und ich teils wirklich immer allein war in Köln nach und vor dem Dreh, habe ich mir feste Routinen gebaut, wie ich in die Rolle rein- und rauskomme. Auch über Meditation, Atemübungen und Yoga, was ich früher gehasst habe, weil ich mich dabei immer gelangweilt habe, habe ich immer wieder eine wichtige, neutrale Base gefunden, auf die ich Emotionen aufbauen konnte.
Nach heftigen Szenen habe ich es dann weggeklatscht, weggetanzt oder abgeschüttelt. Aber es ist schon so, dass ich zum Beispiel nach der heftigen Streitszene mit meiner Spielmutter und meinem Spielbruder tagelang danach noch emotional Matsch war. Der Umgang am Set, was diese ganzen Themen betraf, war sehr verständnisvoll und sensibel. Wir haben als Team zusammen die Szene gespürt und nicht nur vor der Kamera geweint und uns danach gegenseitig in den Arm genommen. Wir haben, glaube ich, alle auch eigene Traumata und Erlebnisse in die Serie reingebracht, was sie auch so real macht. Teilweise war es für einen selbst wie Therapie. Ich habe eigene schmerzhafte Erlebnisse durch Mila zum Ausdruck gebracht und damit teilweise auch verarbeitet und Schmerz zu Kunst gemacht. Für die Intimszenen gab es ein Closed Set mit unserer tollen Intimity-Coachin Emilia, die uns super professionell durch die Szenen geleitet hat und jegliche Ängste einem genommen hat.
Der Film Journalist: Am 2. Oktober startet „Euphorie“ auf RTL+. Deshalb als Abschlussfrage: Warum sollte man die Serie unbedingt ansehen – und was wäre dir wichtig, dass man vielleicht aus den Folgen mitnimmt?
Derya Akyol: Die Serie ist eine ungefilterte und pure Realitätsabbildung unserer Generation und

spricht Themen an, die jeden betreffen, aber nie wirklich angesprochen werden. Ich wette, jede*r wird sich in mindestens einer Storyline selbst erkennen. Es werden Themen genannt und gezeigt, die sonst nur quasi hinter den Kulissen stattfinden – alles, was sich hinter der perfekt wirkenden Social-Media-Realität verbirgt. Die Gefühle, die wir während des Drehs gespürt und erlebt haben, können hoffentlich auch alle anderen berühren. Was, glaube ich, eine große Message ist: allen hier zu zeigen, dass niemand allein ist oder die Gefühle, die man fühlt, falsch seien, nur weil es so wirkt, als wären alle anderen perfekt und würden gar nicht strugglen.
Gefühle sind nie falsch. Und es ist okay, egal in welchem Alter, einfach mal in den Arm genommen werden zu wollen, wenn es einem nicht gut geht. Ein Bewusstsein für Mental Health, der Aufruf zuzuhören und verständnisvoll zu sein sowie das Bewusstmachen, welche Ausmaße Cybermobbing und dieser aktuell völlig banale Hate-Trend für die betroffene Person haben können, finde ich wichtig. Niemand ist perfekt. Niemand. Und das ist okay. Seid verständnisvoll miteinander. Und was mir sehr am Herzen liegt, was ich vor allem auf TikTok beobachte: Wann ist es denn Trend geworden, gehässige Kommentare an random Leute so zu feiern? Kann man den Trend nicht mal umdrehen und die kreativsten, coolsten und positiven Kommentare feiern?