Mehmet Akif Büyükatalay und Devrim Lingnau Islamoğlu im großen Doppel-Interview: „‚Hysteria‘ ist der wichtigste Film, den ich bisher gemacht habe“
- Toni Schindele

- vor 3 Tagen
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„‚Hysteria‘“ ist für mich ein Abbild davon, wie wir als Gesellschaft unsere Kommunikationsfähigkeit verlieren – wie wir aufhören, miteinander zu sprechen“, meint Mehmet Akif Büyükatalay über seinen neuen Film.

Ein verlorener Schlüssel wird zum Ausgangspunkt einer Kettenreaktion: In „Hysteria“, dem zweiten Spielfilm von Mehmet Akif Büyükatalay, arbeitet die junge Praktikantin Elif am Set eines Films über den rechtsextremen Brandanschlag von Solingen 1993. Als sie den Wohnungsschlüssel des Regisseurs verliert und kurz darauf das analoge Filmmaterial verschwindet, eskaliert die Situation: Verdächtigungen, politische Spannungen und persönliche Unsicherheiten verdichten sich zu einem Netz aus Projektionen und Beschuldigungen. Mit „Hysteria“ führt Büyükatalay nach seinem preisgekrönten Spielfilmdebüt „Oray“ seine filmische Untersuchung von Identität, Wahrnehmung und gesellschaftlicher Zuschreibung konsequent fort. In der Hauptrolle steht Devrim Lingnau Islamoğlu, die 2025 bei der Berlinale als European Shooting Star ausgezeichnet wurde. Kurz vor dem Kinostart am 6. November 2025 haben sich Mehmet Akif Büyükatalay und Devrim Lingnau Islamoğlu Zeit für ein großes Interview genommen.
Der Film Journalist: Wie sind Sie auf die Idee des Films gekommen?
Mehmet Akif Büyükatalay: Die Ursprungsidee war eine ganz einfache: Eine Frau verliert ihren Schlüssel, ein Fremder ruft an und behauptet, ihn gefunden zu haben. Voller Vorfreude gibt sie ihm ihre Adresse, doch dieser Fremde kommt nicht. Und was macht dieser Fremde, was löst er aus? Künstlerisch hat es mich gereizt, einen Film zu machen, in dem die Vorstellung eines Fremden eine ganze Gemeinschaft in Aufruhr versetzt. Die Idee kam aber auch aus einer politischen Perspektive, weil ich in meinem ersten Film versucht habe, das muslimische Leben in Deutschland aus meiner Sicht zu erzählen – also nicht aus dem Fremdblick. Ich habe immer eine Diskrepanz zwischen dem Fremden und dem Selbstbild gespürt. Danach habe ich mich gefragt: Was heißt es eigentlich, Bilder herzustellen? So kam ich schnell zu diesem Bild des Fremden.
Der Film Journalist: Warum wollten Sie diese Geschichte in Form eines Thrillers erzählen, fast wie ein Whodunit?
Mehmet Akif Büyükatalay: Ich finde, auch politische Filme müssen spannend sein – sie sollen unterhalten. Und ein Krimi-Thriller war etwas, das ich ohnehin gerne erzählen wollte, weil ich das Kino liebe.
Der Film Journalist: Devrim, was hat Sie am Drehbuch besonders gereizt, als Sie es zum ersten Mal gelesen haben?
Devrim Lingnau Islamoğlu: Ich fand es besonders, dass der Film nicht mit den üblichen Stereotypen über das muslimische Leben in Deutschland spielt, sondern ganz lebensnahe Personen aus der muslimischen Community zeigt – ihre Motivationen und Handlungen sind so

plausibel und nachvollziehbar, wie ich das bisher selten gesehen habe. Das hat mich natürlich auch in Bezug auf meine eigene Figur fasziniert. Mir fällt kein anderes Beispiel ein, in dem die Geschichte einer jungen Frau erzählt wird, die als unsichtbare „Streber-Migrantin“ – so haben Mehmet und ich sie oft genannt – zwischen den Welten steht. Wie ein Chamäleon bewegt sie sich in beiden kulturellen Räumen, kennt deren Codes und nutzt sie, doch gerade dadurch entsteht eine gewisse Identitätslosigkeit. Das hat mich schon beim ersten Lesen wahnsinnig fasziniert.
Mehmet Akif Büyükatalay: Ich fand genau diese Halb-Halb-Identität spannend – dieses Dazwischen. Elif trägt beide Identitäten in sich. Das ist ihr Privileg, aber auch ihre Bürde. Weil sie sich dadurch nicht klar positionieren kann – in einer Welt, die ständig Positionierung verlangt. Und interessant war, nach den Screenings kamen viele, vor allem Frauen mit ähnlichem Hintergrund, die sagten, sie hätten so ein Halb-Halb-Dilemma noch nie so in einem Film gesehen.
Devrim Lingnau Islamoğlu: Ja, und das kann ich gut verstehen. Wenn man etwa an Filme wie Fatih Akins „Gegen die Wand“ denkt – da gibt es auch eine deutsch-türkische Community, aber ich als 98er-Jahrgang konnte mich nie so richtig darin wiederfinden. Ich gehöre zu einer anderen Generation. Diese Generation von deutsch-türkischen oder migrantischen Personen in Deutschland hat oft eine Sehnsucht, weiß aber gleichzeitig nicht, wohin sie gehört. Weil dieser Ort, der für mich zum Beispiel die Türkei wäre, ja oft gar nicht mehr in dieser Form existiert. Das heißt, es ist ein leerer Ort – ein Sehnsuchtsort.
Der Film Journalist: Die Vater-Tochter-Beziehung im Film soll an Ihre eigene Biografie angelehnt sein, Devrim. Wie war dieser Prozess und wie viel von Ihnen ist in Elif?
Devrim Lingnau Islamoğlu: Mehmet und ich waren ständig im Austausch. Unsere Familiengeschichten sind unterschiedlich, aber wir konnten uns in vielem wiederfinden. Ich habe

ihm von meiner Geschichte erzählt, er mir von seiner. Ich glaube, über diesen Austausch ist das Ganze gewachsen. Aber es ist nicht so, dass ich einfach nur meine Familiengeschichte offenbare wie bei einem Striptease, sondern eigentlich ist das eine Geschichte, die Mehmet und ich gemeinsam aus unseren jeweiligen Erfahrungsschätzen weitergesponnen haben.
Mehmet Akif Büyükatalay: Aber durch ihre Biografie hat Devrim der Figur nicht nur Stimme und Gesicht gegeben, sondern auch eine tiefe Psychologie, die ich so nicht hätte schreiben können. Wir haben deshalb sogar einige zusätzliche Szenen gedreht, die allein dadurch, wie perfekt Devrim das gespielt hat, letztlich überflüssig geworden und nicht im Film enthalten sind. Ich dachte, ich müsste noch Hintergrundgeschichten visualisieren – aber das war gar nicht mehr nötig.
Devrim Lingnau Islamoğlu: Da muss man aber auch sagen, dass es dafür natürlich die Offenheit eines der Regie und Autor*in braucht, die das zulässt. Es gibt bestimmt viele gute schauspielerische Leistungen in anderen Produktionen, aber manchmal fehlt dann vielleicht der Mut der Filmschaffenden, wirklich dem zu vertrauen, was da entsteht – und zu sagen: „Okay, wir brauchen die restlichen Szenen gar nicht mehr, das bringt es auf den Punkt.“
Der Film Journalist: Im Film wird dem fiktiven Regisseur vorgeworfen, Filme nur fürs gute Gewissen Europas zu machen, weil migrantisch gelesene Menschen meist in ein Rollenprofil besetzt werden – Opfer oder Terrorist. Wollten Sie damit auch den Umgang der Branche mit Diversität und Rollenbildern infrage stellen, gerade weil viele postmigrantische Schauspielende weiterhin über fehlende Rollenvielfalt klagen?
Mehmet Akif Büyükatalay: Ja, absolut. Ich war nie zufrieden damit, wie ich als muslimisch-

türkischstämmiger Deutscher abgebildet wurde. Das Furchtbare war ja oft, dass die Regisseure oder Regisseurinnen selbst türkisch oder muslimisch waren. Das heißt aber nicht automatisch, dass dadurch eine bessere Darstellung entsteht – nur weil man den entsprechenden Namen trägt. Das war eine Auseinandersetzung, die mich lange beschäftigt hat. Im Zuge des Dokumentarfilms „Liebe, D-Mark und Tod – Ask, Mark ve Ölüm“ habe ich während der Recherchephase etwa 60 Spielfilme gesehen, die das türkische oder muslimische Leben in Deutschland zeigen. Die Regie war dabei durchaus divers – aber die Filme selbst waren es nicht. Es gab im Grunde zwei wiederkehrende Typen: Frauen, die vom Weißen gerettet werden wollen, und Männer, vor denen die Weißen Angst haben. Also wieder: Opfer oder Terrorist.
Devrim Lingnau Islamoğlu: Und es geht ja nicht nur darum, überhaupt mit migrantischen Personen zu arbeiten. Natürlich ist Vielfalt schön und bereichernd. Aber mir fehlt oft die Deutungshoheit über die Narrative. Es geht nicht nur ums Besetzen, sondern um die Frage, welche Geschichten erzählt werden.
Mehmet Akif Büyükatalay: Genau. Es geht nicht darum, was du darstellst, sondern wie. Wenn du es schaffst, einer Figur Komplexität zu geben, dann hast du es geschafft. Wichtig ist, wegzukommen von diesem sentimentalen Blick des Weißen.
Der Film Journalist: Im Abspann von „Hysteria“ stehen Sie mit Ihrem vollen Namen, Devrim Lingnau Islamoğlu. War dass das erste Mal und wie kam es dazu?
Devrim Lingnau Islamoğlu: Ja, das war bei „Hysteria“ das erste Mal, dass ich den Namen meiner

Mutter und meines Vaters öffentlich getragen habe. Und das war eine bewusste Entscheidung, die ich gemeinsam mit Mehmet getroffen habe. Der Dreh war sehr intensiv und dabei habe ich gemerkt, dass ich – gerade vielleicht, weil ich mit „Die Kaiserin“ so sehr als österreichische Kaiserin im Vordergrund stehe – es interessant finde, diesen Teil meiner Identität sichtbar zu machen. Auch, weil ich weiß gelesen werde, ist es mir besonders wichtig, in den Zeiten, in denen wir leben, das Migrantischsein sichtbar zu machen. Dazu kommt, dass Islamoğlu ein Nachname ist, in dem das Wort Islam vorkommt – und das darf man nicht unterschätzen.
Aber seit ich diesen Namen mehr in der Öffentlichkeit verwende, merke ich auch, dass Menschen sehr irritiert reagieren. Nicht nur, weil ich einen Doppelnamen trage, sondern weil darin das Wort Islam steckt. Eine Person hat einmal zu mir gesagt: „Ja, aber bei Islam denkt man ja immer gleich an Islamismus.“ Und das war jemand aus der Filmbranche, der sich selbst eher liberal einordnet. Ich habe das nicht als rassistisch empfunden, aber ich merke, wie groß die Islamophobie in Deutschland ist, wenn bei dem bloßen Wort Islam sofort die Assoziation Islamismus entsteht. Das bringt eines der größten Probleme auf den Punkt, die wir hier haben. Für mich war es deshalb wichtig, diesen Namen zu tragen. Wir müssen aktiv werden – und das war für mich ein Weg, etwas sichtbar zu machen.
Der Film Journalist: Werden Sie den Namen jetzt also auch zukünftig öffentlich verwenden?
Devrim Lingnau Islamoğlu: Ja, auf jeden Fall. Ich verwende ihn mittlerweile bei den meisten Produktionen, und er wird auch bei der dritten Staffel von „Die Kaiserin“ stehen. Dafür habe ich

mich sehr eingesetzt. Besonders dort ist es mir wichtig. In einem französischen Kinofilm – „Maria Reiche: Das Geheimnis der Nazca-Linien“ – haben wir uns dagegen entschieden. Aber bei „Die Kaiserin“ liegt das Augenmerk auf einer Figur, die eine große internationale Reichweite hat und sehr weiß gelesen ist. Elisabeth und ihr Mann haben letztlich den Weg in den Ersten Weltkrieg geebnet. Ich habe das Gefühl, das Politikum dieser Figur ist sehr groß.
Der Film Journalist: Als Abschlussfrage: Warum sollte man den Film im Kino sehen – und was wünschen Sie sich, dass man daraus mitnimmt?
Mehmet Akif Büyükatalay: „Hysteria“ ist für mich ein Abbild davon, wie wir als Gesellschaft unsere Kommunikationsfähigkeit verlieren – wie wir aufhören, miteinander zu sprechen. Aufgrund falscher und trendgetriebener Bilder entsteht eine kollektive Hysterie. Der Film hält uns diesen Spiegel vor und zeigt, dass wir uns vielleicht selbst ein Stück daraus befreien können. Und ganz grundsätzlich: Man sollte Independent-Filme im Kino unterstützen – nicht nur „Hysteria“, sondern alle deutschen Produktionen, die anders erzählt sind. Oft heißt es: „Toller Film, aber die Leute gehen nicht ins Kino.“
Devrim Lingnau Islamoğlu: Ja wirklich, die Leute gehen tatsächlich zu wenig ins Kino – aber hoffentlich zu „Hysteria“. Das ist mir als Schauspielerin ein großes Anliegen. Ich mache natürlich auch gerne Produktionen wie „Die Kaiserin“, aber mein Herz brennt für Filme wie diesen. „Hysteria“ ist der wichtigste Film, den ich bisher gemacht habe. Er bedeutet mir sehr viel – wegen meiner Freundschaft mit Mehmet, aber vor allem auch wegen der Inhalte und der Narrative. Ich glaube, dass viele Menschen etwas mit diesem Film anfangen können. Deshalb würde ich mich wahnsinnig freuen, wenn ihn möglichst viele sehen.





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