Jannis Niewöhner im Interview zu „22 Bahnen“: „Jeder nimmt etwas anderes mit, je nachdem, wo man herkommt“
- Toni Schindele

- 5. Sept.
- 5 Min. Lesezeit
„Victor war für mich von Anfang an toll, weil er zwar eine Nebenfigur ist, in die sich die Hauptfigur verliebt, aber das steht überhaupt nicht im Vordergrund“ erzählt Jannis Niewöhner über seine Rolle in „22 Bahnen“

Für Regisseurin Mia Maariel Meyer stand früh fest, wen sie sich für die Rolle des Viktor in ihrer Verfilmung des gefeierten Romans „22 Bahnen“ wünscht: Jannis Niewöhner. Der Schauspieler, der in den vergangenen Jahren mit Rollen in Filmen wie „Je suis Karl“, „Narziss und Goldmund“ oder zuletzt „Hagen – Im Tal der Nibelungen“ vielschichtige Charaktere verkörperte, sollte auch hier einen ambivalenten jungen Mann spielen. Im Zentrum der Geschichte steht jedoch Tilda, gespielt von Luna Wedler: eine junge Frau, die Verantwortung für ihre kleine Schwester übernimmt und dabei zwischen Pflichtgefühl und Selbstverlust steht. Viktor wird zu einer wichtigen Bezugsperson – nicht als typischer Love Interest, sondern als jemand, der selbst auf der Suche ist, verbunden durch einen gemeinsamen Verlust. Im Interview erzählt Jannis Niewöhner, was ihn an der Geschichte gereizt hat und wie er die gesellschaftlichen Themen des Films wahrnimmt.
Der Film Journalist: Das Buch „22 Bahnen“ wurde 2023 zu einem echten Bestsellerphänomen. Wann hast du selbst das erste Mal von der Geschichte gehört – und was hat dich daran besonders gereizt?
Jannis Niewöhner: Ich hatte davon natürlich, wie viele andere auch, schon viel gehört, das Buch

oft in der Bahn oder am Strand im Urlaub gesehen. Meine Mutter hatte es auch gelesen. Ich selbst kannte es aber noch nicht, als die Anfrage kam, und hatte es auch nicht gelesen. Ich habe zuerst das Drehbuch gelesen, mich dann mit der Regisseurin getroffen und erst danach den Roman gelesen. Was mich dann gereizt hat, ist, glaube ich, dass es sehr universelle Themen sind, die uns alle verbinden. Jeder nimmt etwas anderes mit, je nachdem, wo man herkommt. Es geht viel darum, Verantwortung für andere zu übernehmen – und wie wichtig es ist, dafür erst einmal Verantwortung für sich selbst zu übernehmen, ohne sich komplett aufzuopfern. Es ist eine Geschichte über Loslassen, Trauerbewältigung, den Versuch, neu anzufangen, und den Mut, den Hoffnung braucht.
Der Film Journalist: In der öffentlichen Rezeption der Romanvorlage gab es neben großem Lob auch Kritik an der Darstellung der Armutsverhältnisse – vor allem, dass bestimmte finanzielle Nöteausgeblendet würden. Wie hast du das beim Buch empfunden und wie wie würdest du sagen, ist das Bild, dass nun der Film von den Armutsverhältnissen zeichnet?
Jannis Niewöhner: Ich finde, es ist ein ehrlicher Versuch, der Geschichte und Tildas Welt gerecht zu werden. Für mich funktioniert das. Da steckt viel Liebe drin, und ich habe das Gefühl, das Thema wird ernst genommen. Aber ich will niemandem absprechen, es anders zu empfinden –

ich komme selbst aus einer sehr privilegierten Welt, und vielleicht fühlt es sich für manche anders an. Auch beim Thema Sucht wurde Kritik geäußert. Ich kann nur sagen: Für mich fühlt es sich so an, dass die Mutter ihre Kinder liebt, aber wegen ihrer Krankheit einfach nicht in der Lage ist, sich um sie zu kümmern. Es ist eine widersprüchliche Figur, ein widersprüchliches Mutter-Tochter-Verhältnis. Aber ich finde, das wird gut erzählt. Da gibt es diese eine Szene, in der sie aus Hunger Games vorliest und dann sagt: „Ich bin so eine schlechte Mutter.“ Und Tilda antwortet: „Ja, das bist du.“ Aber gleichzeitig nimmt sie ihre Hand, drückt sie und schaut sie liebevoll an. Das hat mich sehr berührt. Jeder kommt mit seiner eigenen Geschichte, seinem eigenen Paket, und so wirkt auch die Geschichte unterschiedlich auf jede Person.
Der Film Journalist: Buchautorin Caroline Wahl hat sich ja nicht vollständig aus der Verfilmung herausgehalten und etwa zum Drehbuch Feedback gegeben. Gab es für dich als Darsteller von Viktor auch Austausch mit ihr und was hat dich an der Figur besonders interessiert?
Jannis Niewöhner: Nein. Sie hat mich einfach machen lassen. Vielleicht hat sie auch darauf vertraut, dass sie eine starke Geschichte geschrieben hat – mit einer sehr genauen Beschreibung einer Gefühlswelt, die wir aufnehmen konnten. So eine Adaption ist immer ein Versuch, dem gerecht zu werden. Man bringt seine eigene Empfindung mit, und das haben wir

gemacht. Victor war für mich von Anfang an toll, weil er zwar eine Nebenfigur ist, in die sich die Hauptfigur verliebt, aber das steht überhaupt nicht im Vordergrund. Man traut sich, ihn nicht als klassischen Love Interest zu erzählen oder ihn besonders sympathisch machen zu müssen – weil da so viel mehr Tiefe ist. Man muss ihn erst entdecken. Am Anfang wirkt er distanziert, weil er es auch ist. Man fragt sich: Wer ist das eigentlich? Was steckt dahinter? Und da steckt viel dahinter, das zum Schluss auch sichtbar werden darf. Ich finde es gut, dass sich der Film die Zeit für diese Figur nimmt. Das mochte ich sehr.
Der Film Journalist: Zwischen Viktor und Tilda entsteht in „22 Bahnen“ eine sehr besondere Beziehung. Was hat dich daran gereizt?
Jannis Niewöhner: Ich fand es stark, dass zwei Menschen nicht nur voneinander angezogen sind,

weil sie sich toll finden oder der Charakter passt, sondern weil da noch etwas anderes ist – ein gemeinsamer Verlust. Zwischen ihnen ist lange eine Distanz, aber gleichzeitig von Anfang an eine starke Verbindung, weil beide jemanden verloren haben, den sie sehr geliebt haben. Die Beziehung ist dadurch vielschichtig, funktioniert auf vielen Ebenen. Ich glaube, sie lernen sich als Menschen lieben, aber sie sind auch die Möglichkeit füreinander, loszulassen, zu trauern, die Trauer rauszulassen – und gemeinsam neu anzufangen. Manchmal braucht es einen anderen Menschen, um das zu schaffen. Das ist auch die Tragik und Tiefe von Victor – dass er mit seinem starken Verlust allein ist. Genau das mochte ich an der Geschichte: diese besondere Verbindung zwischen den beiden.
Der Film Journalist: „22 Bahnen“ ist in den Kinos gestartet – was hoffst du, nimmt man aus dem Film mit?
Jannis Niewöhner: Ich wünsche mir, dass man mit Hoffnung und Mut für einen Neuanfang aus dem Film herausgeht. Dass man sich traut, sich für sich selbst zu entscheiden, für sich da zu

sein – ohne das Gefühl, ein schlechter Mensch zu sein. Manchmal braucht es das, um dann auch wieder für andere da sein zu können. Der Film lässt die Widersprüche in den Figuren und im Leben zu. Er endet mit einer absolut richtigen Entscheidung für Tilda. Gleichzeitig gibt es aber Ida, für die das vielleicht nicht nur richtig ist. So ist das Leben: kein klassisches Happy End. Es geht danach weiter, das eine bedingt das andere. Aber wenn man aus Liebe handelt, ist es richtig, sich für sich selbst zu entscheiden. Das sind Themen, die wir alle kennen. Und deshalb funktioniert das auch als Sozialdrama, das gleichzeitig unterhaltsam ist – mit Leichtigkeit und einer Perspektive auf das Leben, die auch Schönes zeigt.





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