Die Fortsetzung eines der bemerkenswertesten deutschen Filme der letzten zwanzig Jahre tritt mit „15 Jahre“ in große Fußstapfen. Regisseur Chris Kraus setzt die Geschichte der ebenso talentierten wie zerstörerischen Pianistin Jenny von Loeben aus „Vier Minuten“ fort.
Späte Fortsetzungen von erfolgreichen Filmen haben das zuletzt stark von Sequels dominierte Hollywood geprägt, aber auch in Deutschland wurde es immer wieder versucht, bekannte und beliebte Filme weiterzuführen. Zuletzt machte Til Schweiger „Manta Manta – Zwoter Teil“. Doch dass ausgerechnet das Arthouse-Drama „Vier Minuten“ von Chris Kraus aus dem Jahr 2006 rund zwei Jahrzehnte nach seinem ursprünglichen Kinostart eine Fortsetzung erhalten würde, hätten wohl die wenigsten erwartet.
Dabei war nach dem Erfolg von „Vier Minuten“ zunächst keine Fortsetzung geplant. Erst Jahre später entwickelte Kraus die Idee, die Geschichte der Protagonistin Jenny von Loeben weiterzuerzählen. Dies führte zu „15 Jahre“, der jetzt in die Kinos kommt. In einem Interview erklärte Kraus, dass er vor etwa fünf Jahren auf Hannah Herzsprung zuging und ihr seine Idee für eine Fortsetzung vorstellte. Sie sagte sofort zu, ohne zu wissen, worauf sie sich einließ
Darum geht es:
Jenny, einst als Musikwunderkind gefeiert, sitzt seit 15 Jahren wegen Mordes im Gefängnis. Nach ihrer Entlassung versucht sie, in einer christlichen Einrichtung Fuß zu fassen und arbeitet als Putzkraft. Ihre unkontrollierten Wutausbrüche machen eine vollständige Rückkehr in die Gesellschaft jedoch schwierig. Als sie eines Tages auf Omar trifft, einen jungen Flüchtling, wird sie gebeten, ihn bei einer Castingshow am Klavier zu begleiten. Zuerst lehnt Jenny ab, doch als sie den Moderator der Show erkennt – ihren ehemaligen Geliebten Gimmiemore, der sie einst verraten hat – erwacht in ihr der Wunsch nach Vergeltung. Wird sie der Versuchung nachgeben und erneut die Kontrolle verlieren?
Die Rezension:
Chris Kraus gelingt mit „15 Jahre“ ein Werk, das sich nicht allein durch seine Position als Fortsetzung von „Vier Minuten“ definiert und als eigenständiges Werk weitestgehend funktioniert. Man muss den ersten Film nicht zwingend gesehen haben, um zu verstehen, worum es geht. Schon zu Beginn wird klar, dass es hier nicht um einen typischen Rachefilm geht, sondern um ein Drama, das sich mit Schuld und vergangenen Erlebnissen beschäftigt. Kraus mischt Elemente aus verschiedenen Genres und fügt auch Musik und Kritik an der Kultur hinzu, was den Film zu einem immer wieder recht originellen Filmerlebnis macht.
Kraus konfrontiert das Publikum mit der Frage, inwieweit Menschen sich überhaupt grundlegend verändern können, wenn sie traumatische Erfahrungen gemacht haben. Jenny bewegt sich ständig auf einem schmalen Grat zwischen Gerechtigkeit und Selbstzerstörung, während ihre Gegner nicht selten ebenso gebrochen und mitleiderregend erscheinen wie sie selbst. Die Inszenierung von Jennys Rachefeldzug erinnert stellenweise an antike Dramen, in denen das Schicksal der Protagonisten von höherer Hand gelenkt zu sein scheint. Kraus bleibt jedoch stets auf Distanz zur Tragödie und lässt Raum für Momente von absurder Komik und Groteske. Besonders in den Szenen, in denen Jenny sich in die Talent-Show-Welt wagt, wechselt der Film geschickt zwischen Satire und Thriller.
Die Darstellung dieser Welt wirkt bewusst überzeichnet und entlarvt die Oberflächlichkeit der Medienbranche, ohne dabei die eigentliche Haupthandlung aus den Augen zu verlieren. Im Zentrum der Geschichte steht einmal mehr Hannah Herzsprung als Jenny von Loeben, die wieder voll und ganz in der exzentrischen Rolle aufgeht. Ihre Verkörperung von Jenny ist facettenreich und voller Kontraste: mal verletzlich, mal explosiv, oft gleichzeitig distanziert und doch erschreckend nahbar. Herzsprung gelingt es, in wenigen Momenten von fast kindlicher Verletzlichkeit zu brutaler Entschlossenheit zu wechseln, was dem Charakter eine tiefere Komplexität verleiht.
Die Rolle lebt von diesen Spannungsfeldern, die Herzsprung mit beeindruckender körperlicher Präsenz und emotionaler Intensität auslotet. Ihre Darbietung zeigt nicht nur das psychische Chaos der Hauptfigur, sondern auch deren verzweifelte Suche nach Stabilität und Anerkennung. Visuell unterstützt wird dieser Ansatz durch die Bildsprache von Kamerafrau Daniela Knapp, die mit unkonventionellen Perspektiven und unruhigen Bewegungen die emotionale Unausgeglichenheit von Jenny reflektiert. Die Kamera ist oft nah an der Protagonistin, fokussiert auf ihr Gesicht und ihre körperlichen Reaktionen, wodurch das Publikum zwangsläufig mit ihrer inneren Anspannung konfrontiert wird. Gleichzeitig wechseln sich diese intensiven Nahaufnahmen mit distanzierten Totalen ab, die Jennys Isolation und Entfremdung betonen.
Musikalisch setzt Kraus auf die bewährte Zusammenarbeit mit Annette Focks, deren Kompositionen nicht nur die emotionale Ebene des Films unterstreichen, sondern oft als verlängerter Ausdruck von Jennys Gefühlswelt dienen. Insbesondere die Klavierszenen, die bereits in „Vier Minuten“ eine tragende Rolle spielten, fungieren hier erneut als Ventil für Jennys unterdrückte Emotionen. Focks erschafft Klangbilder, die in ihrer Intensität variieren und den emotionalen Zustand der Hauptfigur widerspiegeln. Die Musik wird zum Medium der Kommunikation, wo Worte versagen, und spiegelt Jennys Spannungszustände in Melodien wider, die zwischen sanfter Melancholie und eruptiver Wildheit schwanken. Dieser musikalische Unterbau ist ein wesentlicher Bestandteil der atmosphärischen Dichte von „15 Jahre“ und verleiht dem Film eine fast kathartische Wirkung.
Ein besonders faszinierendes Element ist die Gegenüberstellung von Jenny und der Figur des Gimmemore, dargestellt von Albrecht Schuch. Schuch gibt seinem Charakter eine ambivalente Tiefe, die zwischen Arroganz und Unsicherheit schwankt. Die Dynamik zwischen Jenny und Gimmemore treibt die Handlung voran und fungiert als Spiegel für Jennys innere Konflikte. Dabei wird Gimmemore nicht nur als Gegenspieler, sondern auch als tragische Figur inszeniert, die selbst Opfer ihrer Vergangenheit ist. Dieser Balanceakt verleiht dem Film eine moralische Komplexität, die das klassische Gut-Böse-Schema aufbricht und die Grenzen zwischen Täter und Opfer verschwimmen lässt.
Schuchs Darstellung verleiht dem Film eine zusätzliche dramaturgische Tiefe, die insbesondere in den Konfrontationen mit Jenny zur Geltung kommt. Die Chemie zwischen den beiden Hauptfiguren ist von latenter Feindseligkeit geprägt und entwickelt sich im Verlauf der Handlung zu einem komplexen Machtspiel, das den Zuschauer in seinen Bann zieht. Schuch gelingt es, seiner Figur eine menschliche Tiefe zu verleihen, die den Film aus der Eindimensionalität eines klassischen Rachedramas heraushebt.
Hassan Akkouch, der als syrischer Musiker und einarmiges Kriegsopfer eine starke Präsenz entfaltet, fungiert als moralischer Gegenpol zu Jenny und bringt eine hoffnungsvolle, fast versöhnliche Note in die ansonsten von Aggression und Schmerz geprägte Handlung. Akkouchs sanfte, einnehmende Ausstrahlung steht im Kontrast zu Herzsprungs eruptiver Performance und schafft eine spannende Balance, die den Film um eine weitere Dimension bereichert.
Doch so intensiv und atmosphärisch der Film auch ist, bleibt er nicht ohne Schwächen. Mit einer Laufzeit von 143 Minuten dehnt sich die Geschichte an einigen Stellen unnötig, was die Spannung gelegentlich mindert. Besonders in der zweiten Hälfte des Films treten einige Längen auf, die den Fluss der Erzählung ins Stocken geraten lassen. Dennoch wird dies durch das insgesamt starke und mitreißende Ensemble recht gut kaschiert.
Fazit:
„15 Jahre“ ist ein fesselndes Drama, das sich zwischen Rachethriller und tiefgründiger Charakterstudie bewegt. Mit starker visueller Gestaltung, eindrucksvoller Filmmusik und komplexen Figuren bleibt der Film durchweg spannend, auch wenn nicht alles vollends überzeugt.
>>> STARTTERMIN: Ab dem 11. Januar 2024 im Kino.
Weitere Informationen zu „15 Jahre“:
Genre: Drama, Thriller
Produktionsjahr: 2023
Laufzeit: 144 Minuten
Altersfreigabe: FSK 12
Regie: Chris Kraus
Drehbuch: Chris Kraus
Besetzung: Hannah Herzsprung, Hassan Akkouch, Albrecht Schuch und viele mehr ...
Trailer zu „15 Jahre“:
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