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Kritik zu „Im Schatten des Orangenbaums“: Humanität als Widerstand

  • Autorenbild: Toni Schindele
    Toni Schindele
  • vor 3 Tagen
  • 6 Min. Lesezeit

Der Nahostkonflikt gilt als seit Jahrzehnten schwelender Krisenherd, doch wie weit seine historischen Wurzeln tatsächlich zurückreichen, möchte Cherien Dabis in ihrem neuen Film „Im Schatten des Orangenbaums“ sichtbar machen.


Szene aus „Im Schatten des Orangenbaums“: Eine Familie posiert für ein Gruppenfoto bei einer Hochzeit, mit Braut, Bräutigam, Kindern und Angehörigen vor einem gemalten Hintergrund.
Bildnachweis: © X Verleih AG

Cherien Dabis wurde international mit „Amreeka“ bekannt, der 2009 in Cannes lief und mit dem FIPRESCI-Preis ausgezeichnet wurde. Ihr zweiter Spielfilm „May in the Summer“ eröffnete 2013 das Sundance Film Festival und festigte ihren Ruf als markante Stimme des US-Independentkinos. Darüber hinaus führte sie bei Episoden der Serien „Ramy“, „Ozark“ und „Only Murders in the Building“ Regie; für Letztere wurde sie für den Emmy Award nominiert. Für ihren dritten Langspielfilm „Im Schatten des Orangenbaums“ schöpft Dabis aus Erinnerungen, die sie – nach eigener Aussage – seit ihrer Kindheit begleiten. Aufgewachsen in einer palästinensisch-amerikanischen Familie und zeitweise in Jordanien lebend, prägten sie sowohl die Erzählungen ihres Vaters über dessen Lebensweg als auch eigene Eindrücke während der Aufenthalte in der Herkunftsregion ihrer Eltern.


Bei einem Gespräch nach einer Sundance-Vorführung erinnerte sie sich beispielsweise an ein Erlebnis aus ihrer frühen Kindheit, in dem ein Familienmitglied an einem Sicherheitskontrollpunkt zurückgehalten und unter Druck gesetzt wurde – ein Vorgang, den sie als Kind nicht einordnen konnte und der ihr im Gedächtnis geblieben ist. Diese Erinnerung, zusammen mit weiteren Anekdoten aus ihrem familiären Umfeld und Eindrücken aus der palästinensischen Diaspora, nennt Dabis als Ausgangspunkt ihres neuen Spielfilms, der in einem Umfeld erscheint, das seit dem Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 – bei dem rund 1.400 Menschen getötet wurden – und dem anschließend ausgebrochenen Krieg im Gazastreifen Gegenstand intensiver politischer und gesellschaftlicher Debatten ist. Wie setzt Cherien Dabis' „Im Schatten des Orangenbaums“ ihre Perspektive unter diesen Bedingungen filmisch um?


Darum geht es:


Jaffa im Jahr 1948: Als die britische Fahne eingeholt und der Staat Israel ausgerufen wird, beginnt für die palästinensische Familie um den gebildeten Orangenhainbesitzer Sharif ein schleichender Albtraum. Zwischen Hoffnung auf Stabilität, eskalierender Gewalt und der Angst vor Heimatverlust ringt Sharif darum, in der Heimat bleiben zu können – bis seine Festnahme alles verändert. Jahre später wächst sein Sohn Salim im Exil auf. Kann es einen Weg zurück geben – oder bleibt Jaffa für ihn und seine Familie für immer ein Ort der Vergangenheit?


Die Rezension:


„Im Schatten des Orangenbaums“ ist in jeder Hinsicht als epochale Familienchronik angelegt: Regisseurin, Drehbuchautorin und Hauptdarstellerin Cherien Dabis bündelt in diesem Film biografische Erinnerungsfragmente, historische Recherche und politisch motiviertes Erzählen zu einem über sieben Jahrzehnte gespannten Familienepos, das die palästinensische Erfahrung von Vertreibung, Lagerhaft, Besatzungsalltag und Aufstand konsequent aus der Binnenperspektive einer einzigen Familie heraus entfaltet. Die Struktur ist dabei klar auf Verständlichkeit und emotionale Anschlussfähigkeit für ein westliches Publikum hin entworfen: Der Film will erklären, woher Wut, Trauer und Resignation vieler Palästinenser stammen, und ordnet die private Familiengeschichte bewusst in einen historischen Rahmen ein. Expositionaler Ausgangspunkt ist das Jahr 1988, in dem der jugendliche Noor bei einer Demonstration im Westjordanland von einer Kugel am Kopf getroffen wird und ins künstliche Koma fällt.


Szene aus „Im Schatten des Orangenbaums“: Ein Mann und eine Frau sitzen angespannt vor einem Geistlichen, beide wirken erschöpft und ernst.
Bildnachweis: © X Verleih AG

Cherien Dabis durchbricht daraufhin als seine Mutter Hanan die vierte Wand, wendet sich direkt an uns Zuschauende und erklärt, man könne ihren Sohn und seine Wut nur verstehen, wenn man den Großvater Sharif kenne. Aus dieser Ausgangssituation spannt sich der Bogen zurück ins Jahr 1948 – zur Vertreibung aus dem Haus mit Orangenhain in Jaffa, zur Internierung des Familienvaters, zu Jahrzehnten des Lebens unter israelischer Kontrolle und ständiger Einschränkung. Alles läuft darauf hinaus, den Weg von der Vertreibung des Großvaters über den gebrochenen Vater bis hin zum radikalisierten Sohn nachzuzeichnen. Sharifs Verhaftung und Lagerhaft bilden die Folie für Salims kleinmütiges, von Angst und Anpassung geprägtes Dasein im Westjordanland der 1970er-Jahre; Salims öffentlich erlebte Demütigung durch Soldaten, beobachtet von seinem eigenen Kind, wiederum erklärt Noors Bedürfnis, sich später gegen diese Erniedrigungen aufzulehnen.


Die Kausalität, mit der Dabis diese Generationenketten zieht, überzeugt in ihrer inneren Logik und macht die Mechanismen transgenerationaler Traumata anschaulich – zugleich erzeugt diese stringente Verkettung gelegentlich den Eindruck des allzu didaktischen Modells. Manche Szenen wirken weniger wie beobachtete Momente als wie beispielhafte Illustrationen einer These, etwa wenn Demütigung, Ohnmacht und politischer Aufruhr in fast schematischer Abfolge aneinander montiert werden. Das Ensemble ist deutlich auf emotionale Glaubwürdigkeit im Rahmen des historischen Settings ausgerichtet. Cherien Dabis selbst verankert den Film in ihrer Figur Hanan, die als Mutter eines verletzten Jugendlichen und zugleich als Bindeglied zwischen den Generationen fungiert.


Szene aus „Im Schatten des Orangenbaums“: Eine Frau geht mit einem Jungen durch eine belebte Gasse, umgeben von Männern in traditionellen Kopfbedeckungen, während Lichtstrahlen durch den Staub der Straße fallen.
Bildnachweis: © X Verleih AG

Dabis’ Spiel ist von kontrollierter Emotionalität geprägt: In den Krankenhaus-Szenen, in denen sie zwischen medizinischer Profession, familiärer Verzweiflung und politischer Realität vermittelt, lässt sie die Zerreißprobe einer Frau sichtbar werden, die Fürsorge in einem System leisten muss, das ihre Familie strukturell benachteiligt. Adam Bakri verleiht dem jungen Sharif eine Dringlichkeit, die die Ereignisse von 1948 nicht als abstrakten historischen Einschnitt, sondern als persönlichen Zusammenbruch eines Lebensentwurfs erfahrbar macht. Seine Energie, sein Versuch, Haus, Hain und Familie gegen eine übermächtige Gewalt zu verteidigen, setzt den emotionalen Grundton, der die späteren Zeitebenen unterlegt. Mohammad Bakri führt diese Figur in der älteren Version fort und spielt Sharif als jemanden, der im Spannungsfeld zwischen Bewahrung und Verharren lebt, als Träger eines Traumas, das an die nächste Generation weitergegeben wird, ohne je wirklich verarbeitet worden zu sein.


Saleh Bakri gestaltet Salim als Vater, der unter den Bedingungen von Besatzung und wirtschaftlicher Prekarität versucht, ein Minimum an Würde aufrechtzuerhalten. Dabis erzählt keine konkret belegbare Biografie, sondern nutzt recherchierte Muster, Familienerinnerungen und symbolische Verdichtung, um aus Einzelschicksalen ein exemplarisches Narrativ zu entwickeln. Das Drehbuch entstand vor den Hamas-Massakern vom 7. Oktober 2023; die Dreharbeiten fanden jedoch unter dem Eindruck des anschließenden Krieges statt, der das Team zwang, Palästina zu verlassen und stattdessen in Zypern, Griechenland und zu großen Teilen in Jordanien zu drehen, unter anderem in Lagern, in denen palästinensische Geflüchtete leben. Diese Produktionsumstände schlagen sich nicht als explizite Kommentarspur in der Handlung nieder, verleihen dem Film aber zwangsläufig eine gewisse Brisanz.


Hinter-den-Kulissen-Moment aus „Im Schatten des Orangenbaums“: Regisseurin Cherien Dabis gibt einem jungen Darsteller Anweisungen am Set, während Crewmitglieder im Hintergrund arbeiten.
Bildnachweis: © X Verleih AG

Dabis hat in Interviews betont, sie wolle eine Perspektive nachliefern, die im westlichen Diskurs über Jahrzehnte zu kurz gekommen sei; diese Zielsetzung spiegelt sich unmittelbar in der Form: Der Film reklamiert keine multiperspektivische Ausgewogenheit, sondern markiert sich als bewusste Gegenposition zu einer medial als verzerrt wahrgenommenen Darstellung palästinensischer Lebensrealitäten. „Im Schatten des Orangenbaums“ bleibt strikt in der Binnenwahrnehmung der palästinensischen Familie verankert; israelische Figuren erscheinen fast ausschließlich als Vertreter eines Abwehr- und Kontrollapparats. Dramatische Kernmomente wie Bombardierungen, Verhaftungen oder demütigende Situationen werden dadurch eindeutig verortet und ordnen Ursache und Wirkung aus palästinensischer Erfahrung heraus zu. Das löst je nach politischer Erwartungshaltung den Vorwurf der Einseitigkeit oder die Anerkennung einer überfälligen Gegenstimme aus – beides ist im Film angelegt.


Doch trotz dieser eindeutigen Parteinahme formuliert der Film eine humanistische Botschaft, die den Kern des Werks trägt; Menschlichkeit wird hier als zentrale Gegenkraft zu Gewalt und politischer Härte hervorgehoben – ein Motiv, das der Film selbst explizit formuliert. In einer Schlüsselszene fasst ein islamischer Gelehrter diesen Gedanken in den Satz: „Menschlichkeit ist eine Form des Widerstands.“ Die Sehnsucht nach Versöhnung verdichtet sich zudem in einem moralisch aufgeladenen Organspende-Konflikt. Die Frage, ob das Herz eines erschossenen palästinensischen Jugendlichen möglicherweise in der Brust eines israelischen Soldaten weiterschlagen darf, kann aus heutiger Perspektive wie eine Geste aus einer anderen, vielleicht kurzzeitig hoffnungsvolleren Zeit wirken – oder auch wie eine hoffnungsstiftende Metapher, die derzeit erst recht Relevanz besitzt – und ist zugleich der Punkt, an dem sich die Diskussion über ihn vermutlich entzünden wird: weniger an der Frage, ob er richtig oder falsch erzählt ist, sondern daran, wie viel Einseitigkeit ein Film sich leisten darf, der den Anspruch erhebt, Geschichte erklärbar zu machen.


Szene aus „Im Schatten des Orangenbaums“: Ein Vater hebt seinen Sohn im Orangenhain hoch, damit der Junge eine reife Orange pflücken kann, warmes Sonnenlicht fällt durch die Blätter.
Bildnachweis: © X Verleih AG

Dass „Im Schatten des Orangenbaums“ auf der Bildebene eher konventionell bleibt, passt zu diesem Ansatz. Die Kamera beobachtet mit ruhigen Bewegungen und verzichtet auf perspektivische Spielereien; lediglich die Szenen, nachdem Noor angeschossen wurde, bringen mit hektisch geführter Handkamera etwas Dynamik über die Bildsprache ins Geschehen. Die Szenen in Jaffa arbeiten mit warmen Farben und weichem Licht, in den späteren Teilen im Westjordanland verschiebt sich die Bildsprache in nüchternere Töne. Die musikalische Untermalung fügt sich stimmig in dieses Konzept ein: weit ausgreifende, elegische Themen verbinden die Zeitebenen, unterstreichen Übergänge und emotionale Kulminationspunkte, ohne sich dominant in den Vordergrund zu drängen. Die Musik stützt vor allem den Fluss und die melancholische Grundstimmung, bleibt aber als eigenständige kompositorische Stimme eher zurückhaltend und entwickelt wenig kontrastierende Momente, die die Bilder stärker brechen oder kommentieren würden.


Fazit:


„Im Schatten des Orangenbaums“ ist ein eindringlich erzähltes, bewusst aus palästinensischer Sicht konzipiertes Generationendrama, das Geschichte über familiäre Dynamiken erfahrbar macht. Cherien Dabis verwebt autobiografische Erinnerungen, historische Faktizität und symbolisches Erzählen zu einer emotional dichten Chronik über Trauma, Verlust und dessen Weitergabe und setzt dabei auf Humanität als Gegenkraft zu Gewalt.


>>> STARTTERMIN: Ab dem 20. November 2025 im Kino.


Wie hat Dir der Film gefallen? Teile Deine Meinung gerne in den Kommentaren!

Weitere Informationen zu „Im Schatten des Orangenbaums“:

Genre: Drama

Laufzeit: 146 Minuten

Altersfreigabe: FSK 12


Regie: Cherien Dabis

Drehbuch: Cherien Dabis

Besetzung: Cherien Dabis, Saleh Bakri, Adam Bakri und viele mehr ...


Trailer zu „Im Schatten des Orangenbaums“:


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