Kritik zu „22 Bahnen“: Zwischen Alkoholismus und Geschwisterliebe
- Toni Schindele
- vor 1 Tag
- 5 Min. Lesezeit
Wie viel Verantwortung kann ein einzelner Mensch tragen, bevor das eigene Leben zu kurz kommt? Auch um diese Frage geht es in „22 Bahnen“, der Verfilmung von Caroline Wahls vielbesprochenem Debütroman.

Es gibt Bücher, die nachhallen, lange nachdem man die letzte Seite umgeblättert hat – und „22 Bahnen“ von Caroline Wahl gehörte 2023 zweifellos dazu. Der Roman, der mit literarischen Preisen überhäuft und von Kritik wie Leserschaft gleichermaßen gefeiert wurde, traf einen Nerv, und so verwundert es nicht, dass es nicht allzu lange gedauert hat, bis eine Verfilmung angekündigt wurde. Doch wenn ein gefeierter Roman den Sprung auf die große Leinwand wagt, schwingt stets die Frage mit: Kann das Kino dem, was zwischen Buchdeckeln ganze Leserschaften bewegt hat, gerecht werden?
Darum geht es:
Tilda jongliert zwischen Studium, Supermarktkasse und der Verantwortung für ihre kleine Schwester – und ihre alkoholkranke Mutter. Ihr Leben folgt einem festen Plan, in dem kaum Platz für eigene Träume bleibt. Doch ein Sommer verändert alles: Ein Jobangebot in Berlin verspricht Freiheit, Zukunft und ein Leben nur für sie. Und dann ist da noch Viktor, der genau wie sie immer 22 Bahnen im Freibad schwimmt. Doch je näher die Entscheidung rückt, desto lauter wird die Frage: Darf man einfach gehen, wenn man zu Hause noch gebraucht wird?
Die Rezension:
Im Kern sehr werkgetreu ist die Verfilmung von Caroline Wahls „22 Bahnen“ ein Film, der Fans der Vorlage einerseits vertraute Bilder liefert, aber auch andererseits für das Kino einen eigenen Ton findet. In der mit 102 Minuten straff erzählten Inszenierung findet alles Wesentliche seinen Platz, ohne dass die Fülle erdrückt oder zentrale Elemente fehlen. Natürlich wird man manches aus dem Roman vermissen – ein Umstand, der bei Literaturverfilmungen kaum zu vermeiden ist –, doch insgesamt ist Drehbuchautorin Elena Hell eine ausgewogene wie zugängliche Gewichtung gelungen, während Regisseurin Mia Maariel Meyer auf eine Bildsprache setzt, die dem Arthouse-Kino spürbar nahesteht und doch für ein breites Publikum mitreißend sein kann. Kameramann Tim Kuhn setzt auf kontrastreiche, sommerlich flirrende Bilder, die immer wieder intime Nähe mit atmosphärischer Weite verbinden. Heimliches Highlight des Films ist zudem die mitreißende musikalische Untermalung von Dascha Dauenhauer.

Der Soundtrack hält die Szenen zusammen, überlagert die sommerliche Stimmung mit unterschwelliger Melancholie und unterstreicht das Auf und Ab zwischen Hoffnung und Resignation mit kräftigen Bässen, wuchtigen elektronischen Beats und atmosphärischen Streichern. Im Zentrum dieses Spätsommerfilms steht Tilda, die als junge Frau zwischen Verantwortung und Selbstverwirklichung aufgerieben wird. Ihre alkoholkranke Mutter zwingt sie in eine Rolle, die eigentlich nicht die ihre ist: Sie muss Ersatzmutter sein, zugleich aber auch Schwester, Aufpasserin und obendrein noch Studentin mit Ambitionen. Dabei scheut der Film nicht davor zurück, die dunklen Folgen von Alkoholismus sichtbar zu machen. In Deutschland wachsen etwa 2,65 Millionen Kinder mit mindestens einem alkoholabhängigen Elternteil auf – das entspricht etwa jedem siebten Kind; die Folge sind erhöhte Risiken für psychische Erkrankungen, Schulprobleme und eine drei- bis vierfach gesteigerte Wahrscheinlichkeit späterer eigener Suchtentwicklungen.
Dass Tilda längst in die Rolle einer Elternfigur hineingewachsen ist, wird in vielen Momenten spürbar, in ihrer bewusst ruhigen Reaktion auf den beinahe fatalen Küchenbrand oder in ihrer minutiösen Alltagsorganisation. Alkoholsucht wird im Kino häufig klischeehaft überzeichnet oder ins Melodramatische verzerrt – „22 Bahnen“ hingegen bemüht sich sichtbar um ein authentisches Bild. Regisseurin Mia Maariel Meyer recherchierte dafür intensiv, sprach mit betroffenen Familien, zog Fachliteratur und Psychologen hinzu. Ihr zentrales Anliegen war, die zerstörerischen Dynamiken innerhalb einer Familie erfahrbar zu machen – und genau das gelingt dem Film eindringlich. Einen entscheidenden Anteil daran hat Laura Tonke, die als alkoholkranke Mutter Andrea mit viel Feingefühl spielt. Doch während der Alkoholismus der Mutter mit realitätsnaher Härte gezeichnet wird, bleibt die Darstellung finanzieller Not eher vage. Dabei wären die gesellschaftlichen Parallelen durchaus präsent: Die Lebenssituation junger Menschen in Deutschland ist zunehmend durch finanzielle Unsicherheit geprägt.

Mit einer Armutsgefährdungsquote von über 25 Prozent bei den 18- bis 24-Jährigen zeigt sich eine Generation unter Druck – insbesondere im Übergang zwischen Schule, Ausbildung und eigenständiger Existenz. Gerade junge Menschen, die studieren oder erstmals in eine eigene Wohnung ziehen, geben im Schnitt über die Hälfte ihres verfügbaren Einkommens für Miete aus. Bei Studierenden mit eigenem Haushalt liegt der Anteil sogar bei 53 Prozent – ein struktureller Faktor, der das Armutsrisiko verfestigt. Tildas Lebensrealität, zwischen Uni-Verpflichtungen und familiärer Rücksichtnahme, hätte exemplarisch für viele junge Erwachsene stehen können, wird aber ebenso wie in der Romanvorlage etwas ausgeklammert. Dafür sind die titelgebenden 22 Bahnen im Schwimmbad ein visuelles Leitmotiv: Jede Bahn bedeutet Kontrolle, Regelmäßigkeit und einen Moment, der nur Tilda gehört. Das Wasser wird zum einzigen Raum, in dem sie atmen kann, bevor sie wieder in die familiäre Enge zurückmuss. Dabei lässt uns Tilda durch Voice-Over-Kommentare an dem teilhaben, was ihre Gedanken und Gefühlen sind, was eine weitere Nähe zur Romanvorlage schafft, die ebenfalls aus der subjektiven Ich-Perspektive verfasst ist.
Zwar wirken einzelne Formulierungen bisweilen manieriert, doch es entstehen gerade durch diese Kommentare pointierte, bisweilen humorvolle Momente, die zugleich Tildas Leidenschaft für Mathematik verdeutlichen. Inmitten des familiären Chaos verschafft sie sich Halt, indem sie ihr Leben in Zahlen fasst – seien es die 22 Bahnen im Schwimmbad, die nüchterne Berechnung, zu 66,67 Prozent Teil einer intakten Familie zu sein oder Bilanz, dass ihre Mutter bereits 17-mal versprochen hat, sich zu ändern. Zwischen Wut, Überforderung und stillem Durchhaltewillen – mit Luna Wedler als Tilda ist der Film in seiner zentralen Rolle exzellent besetzt. Mit kraftvoller Körperlichkeit trägt Wedler die Protagonistin mit mitreißender Intensität, die sie auch jenseits der Dialoge zu einer greifbaren, nachvollziehbaren Figur formt, der man gerne auf ihrem Weg hin zur lebensverändernden Entscheidung folgt. Auch Zoë Baier als Ida überzeugt in vielen Momenten mit Authentizität, wenngleich man ihrem Spiel die noch begrenzte Erfahrung anmerkt.

Vor allem ist es aber ihr Zusammenspiel, das das Herzstück dieser Geschichte bildet, da die beiden eine hervorragende gemeinsame Chemie haben, durch die man den bedingungslosen Zusammenhalt zwischen den Schwestern stets spürt. Ein emotionaler Höhepunkt des Films ist die Szene, in der die Schwestern „Durch den Monsun“ von Tokio Hotel singen. Was auf den ersten Blick plakativ wirken könnte, erweist sich als treffsicherer Moment der Selbstvergewisserung und des Zusammenhalts. Die zweite zentrale Beziehung im Film – jene zwischen Tilda und Viktor – wird deutlich zurückhaltender erzählt. Der verschlossene junge Mann, der Tildas Gedanken zunehmend dominiert, bleibt lange ein Mysterium. Erst allmählich decken Rückblenden auf, dass ihn ein traumatisches Erlebnis mit Tilda verbindet. Erzählerisch geht das auch hervorragend auf, da Jannis Niewöhner Viktor auffallend unaufdringlich spielt, sich nie zu sehr ins Zentrum drängt und als ambivalenter junger Mann alle Facetten einer Rolle ausschöpft, die mehr sein soll als nur der gutaussehende Love Interest.
Fazit:
„22 Bahnen“ ist ein Drama, das berührt, ohne rührselig zu werden, das gerade durch seine Zurückhaltung jene Authentizität gewinnt, die im deutschen Kino nicht selbstverständlich ist – eine gelungene Romanadaption in Arthouse-Ästhetik, die mit einer durchweg beeindruckenden Besetzung unmittelbar in eine Geschichte hineinzieht, die weniger eine klassische Coming-of-Age-Geschichte als vielmehr ein präzises Familienporträt ist, das universeller ist, als man auf den ersten Blick meinen könnte.
>>> STARTTERMIN: Ab dem 4. September 2025 im Kino.
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Weitere Informationen zu „22 Bahnen“:
Genre: Drama
Laufzeit: 102 Minuten
Altersfreigabe: FSK 12
Regie: Mia Maariel Meyer
Drehbuch: Elena Hell
Besetzung: Luna Wedler, Jannis Niewöhner, Laura Tonke und viele mehr ...
Trailer zu „22 Bahnen“:
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