top of page
Toni Schindele

Kritik zu „All We Imagine as Light“: Visuelle Poesie und tiefe Emotionen

Payal Kapadia erobert die internationale Filmwelt mit ihrem preisgekrönten Spielfilmdebüt „All We Imagine as Light“. Der Cannes-Gewinner entführt uns in das pulsierende und konfliktreiche Mumbai, fernab gängiger Bollywood-Klischees.


Kritik zu „All We Imagine as Light“: Visuelle Poesie und tiefe Emotionen
Bildnachweis: © Rapid Eye Movies

Die 1986 in Mumbai geborene Payal Kapadia gilt als eine der spannendsten neuen Stimmen im indischen Kino. Mit ihrem Spielfilmdebüt „All We Imagine as Light“ schaffte sie es als erste indische Produktion seit drei Jahrzehnten direkt in den Hauptwettbewerb der Filmfestspiele von Cannes. Neben der prestigeträchtigen Uraufführung gewann der Film auch den zweitwichtigsten Preis von Cannes, den Großen Preis der Jury. Der Film, gedreht in Mumbai und Ratnagiri, ist eine Koproduktion zwischen Indien und Frankreich und wurde trotz europäischer Fördermittel fast ausschließlich mit indischer Besetzung und Crew realisiert. Jetzt startet „All We Imagine as Light“ auch in Deutschland.


Darum geht es:


In Mumbai, wo die Hektik der Metropole mit den stillen Kämpfen des Alltags verschmilzt, gerät das Leben der Krankenpflegerin Prabha aus dem Gleichgewicht. Ein unerwartetes Geschenk ihres entfremdeten Ehemanns aus Deutschland reißt die längst verschlossenen Wunden ihrer Vergangenheit wieder auf. Gleichzeitig sucht ihre jüngere Mitbewohnerin Anu nach einem Ort, der ihre junge Liebe schützen kann.


Die Rezension:


Die indische Filmindustrie wird in der westlichen Wahrnehmung oft auf klischeehafte Tanz- und Gesangseinlagen reduziert. Payal Kapadias „All We Imagine as Light“ ist kein solcher Film: Introspektiv, poetisch und zugleich gesellschaftskritisch entzieht sich der Film den üblichen Erwartungen an indische Filme und zeigt stattdessen eine feinfühlige, bisweilen melancholische Auseinandersetzung mit den Realitäten Mumbais, einer Stadt, die für Millionen Menschen sowohl Hoffnung als auch Enttäuschung bedeutet. Mumbai, die größte Stadt Indiens, ist Schauplatz und Spiegelbild der sozialen Dynamiken, die das Land prägen.


Kritik zu „All We Imagine as Light“: Visuelle Poesie und tiefe Emotionen
Bildnachweis: © Rapid Eye Movies

Millionen von Menschen zieht es in diese Megastadt in der Hoffnung auf ein besseres Leben, doch die Versprechen bleiben für viele Illusionen. Kapadia inszeniert diese Stadt nicht als reine Kulisse, sondern als lebendigen Organismus, der die Figuren formt und beeinflusst. Die Kamera gleitet durch nächtliche Straßen, eingefangen im Zwielicht von Neonröhren und Straßenlaternen, und gibt Einblicke in das Leben der vielen Gesichter, die in der Anonymität der Millionenstadt verschwinden. Mumbai wird hier nicht als glitzernde Metropole dargestellt, sondern als ein Ort voller Kontraste, der Hoffnung und Verzweiflung gleichermaßen hervorruft. Die poetische Bildsprache lässt die Grenzen zwischen Realität und Fiktion verschwimmen und betont die emotionale Innenwelt der Protagonistinnen.


Die Erzählung ist dabei bewusst unaufgeregt. Kapadia verzichtet bewusst auf plakative Gegensätze zwischen Arm und Reich. Stattdessen schildert sie in „All We Imagine as Light“ die schleichende Isolation und die Zerrissenheit, die das Leben in der Großstadt begleitet. Die Protagonistinnen sind keine Heldinnen im klassischen Sinne, sondern einfache Frauen, deren Alltag durch subtile Herausforderungen geprägt ist. Im Zentrum der Handlung stehen Prabha, eine Krankenschwester mittleren Alters, und ihre junge Kollegin Anu. Prabha, verlassen von ihrem Mann und gefangen in einem Leben der Routine, strahlt eine stille Resignation aus, während Anu voller jugendlicher Energie und Rebellion steckt. Kani Kusruti liefert als Prabha eine bemerkenswert nuancierte Darstellung einer Frau, die zwischen Aussichtslosigkeit und stillem Widerstand hin- und hergerissen ist.


Ihre subtile Mimik und die kontrollierte Körpersprache verleihen Prabha eine authentische Präsenz, die tief berührt. Divya Prabha als Anu bringt auf der anderen Seite eine frische, energetische Dynamik in den Film, deren jugendlicher Eifer mitreißt. Doch auch Anus Freigeist wird durch gesellschaftliche Normen und die strengen Erwartungen ihrer Familie eingeengt. Die Chemie zwischen den Schauspielenden trägt maßgeblich zur emotionalen Intensität der Handlung bei und ermöglicht es dem Publikum, sich tief mit den individuellen Schicksalen der Figuren zu identifizieren. Kapadia nutzt die Beziehung der beiden Frauen als Spiegel für die widersprüchlichen Realitäten, mit denen Frauen in Indien konfrontiert sind – zwischen Tradition und Moderne, zwischen Anpassung und dem Wunsch nach Selbstbestimmung.


Kritik zu „All We Imagine as Light“: Visuelle Poesie und tiefe Emotionen
Bildnachweis: © Rapid Eye Movies

Diese Spannungen entfalten sich nicht in lauten Auseinandersetzungen, sondern in beiläufigen, fast unscheinbaren Szenen, die dennoch eine enorme emotionale Wucht besitzen. Die wirtschaftlichen Zwänge und sozialen Hierarchien, die durch Kastensysteme und Religion verstärkt werden, sind allgegenwärtig. Kapadia zeigt dies jedoch nicht mit erhobenem Zeigefinger, sondern durch kleine, präzise Szenen, die die Härte und die Schönheit des Lebens nebeneinanderstellen. Ihr Werk ist weniger ein direkter Appell als ein Nachdenken über die Möglichkeiten des Wandels in einer Gesellschaft, die oft an ihren Traditionen festhält. Die Solidarität zwischen Frauen – ein zentraler Aspekt des Films – wird dabei als Hoffnungsschimmer inszeniert.


In einer Gesellschaft, die von patriarchalen Strukturen durchzogen ist, schaffen sich die Frauen Räume der Gemeinschaft und des gegenseitigen Beistands. Prabha und Anu unterstützen sich nicht nur im Alltag, sondern auch in Momenten persönlicher Krisen. Diese stillen Akte der Solidarität bilden das Herzstück des Films und verdeutlichen, dass wahre Stärke oft in den leisen, unscheinbaren Gesten liegt. Kapadia gelingt es, diese Dynamik ohne Pathos oder Kitsch darzustellen, was dem Film eine seltene Authentizität verleiht. Darüber hinaus thematisiert der Film die soziale Unsichtbarkeit von Migranten und Frauen aus niedrigeren sozialen Schichten. Viele der Figuren bewegen sich durch die Stadt, als wären sie Schattenwesen, gefangen in einem Kreislauf aus Arbeit und Entfremdung.


Kapadia beobachtet diese Realitäten mit der Präzision einer Dokumentarfilmerin und verzichtet auf einfache Lösungen oder überzogene Dramatik. Gerade diese Zurückhaltung macht den Film so eindringlich und lässt die Zuschauenden tief in die Lebenswelt der Figuren eintauchen. Ein bemerkenswerter Aspekt von „All We Imagine as Light“ ist die Art und Weise, wie der Film traditionelle Geschlechterrollen hinterfragt. Prabha und Anu werden nicht als Opfer dargestellt, sondern als Frauen, die trotz der Zwänge und Herausforderungen ihres Umfelds ihren eigenen Weg suchen. Der Film zeigt auf, dass wahre Veränderung oft im Kleinen beginnt – in der Entscheidung, sich nicht unterkriegen zu lassen, in der Bereitschaft, füreinander da zu sein und in der Kraft, eigene Träume und Vorstellungen gegen die gesellschaftlichen Erwartungen zu verteidigen.


Kritik zu „All We Imagine as Light“: Visuelle Poesie und tiefe Emotionen
Bildnachweis: © Rapid Eye Movies

Ein herausragendes Element von „All We Imagine as Light“ ist dabei die Bildsprache. Kapadia nutzt die Kamera nicht nur, um zu dokumentieren, sondern um Emotionen und Gedanken visuell zu vermitteln. Die Farben und Lichtstimmungen wechseln zwischen trübem Grau und schimmerndem Neon, was die Gefühlswelten der Figuren subtil unterstreicht. Szenen wie ein flatternde Tuch im nächtlichen Wind oder die Reflexionen in den Regenpfützen zeigen Kapadias Fähigkeit, durch scheinbar einfache Bilder komplexe Stimmungen zu erzeugen.


Fazit:


Mit seinem leisen, poetischen Ton hinterlässt „All We Imagine as Light“ einen tiefen Eindruck. Der Film fordert Geduld und Nachdenklichkeit, belohnt dies jedoch mit einem vielschichtigen Porträt einer Stadt und ihrer Menschen. Der Film ist ein stilles, aber kraftvolles Plädoyer für Empathie und Menschlichkeit.


>>> STARTTERMIN: Ab dem 19. Dezember 2024 im Kino.


Weitere Informationen zu „All We Imagine as Light“:

Genre: Drama

Produktionsjahr: 2023

Laufzeit: 114 Minuten

Altersfreigabe: FSK 12


Regie: Payal Kapadia

Drehbuch: Payal Kapadia

Besetzung: Kani Kusruti, Divya Prabha, Chhaya Kadam und viele mehr ...


Trailer zu „All We Imagine as Light“:


Opmerkingen


bottom of page