Gábor Reisz’ neuer Film „Eine Erklärung für alles“ wirft ein schonungsloses Schlaglicht auf politische Spannungen und moralische Grauzonen im heutigen Ungarn – und das durch Ábel, der bei seiner Abiturprüfung durchfällt.
Der ungarische Filmemacher Gábor Reisz hat sich längst als eine der spannendsten Stimmen des osteuropäischen Kinos etabliert. Nach seinem Abschluss in Filmgeschichte und -theorie sowie Filmregie sorgte er mit seinem Debütfilm „Aus unerfindlichen Gründen“ aus dem Jahr 2014 für Aufsehen: eine unkonventionelle Coming-of-Age-Geschichte, die nicht nur in Ungarn sehr gut ankam, sondern auch international Erfolge feierte. Mit seinem preisgekrönten zweiten Spielfilm „Bad Poems“, der vier Jahre später herauskam, setzte er diesen Erfolg fort.
Doch Reisz’ jüngster Film „Eine Erklärung für Alles“ geht über persönliche Geschichten hinaus und greift tief in die politische Realität seines Heimatlandes ein. Die Idee zu diesem Werk entstand 2021, als die traditionsreiche Universität für Theater- und Filmkunst in Budapest durch staatliche Eingriffe ihre Autonomie verlor. Die Proteste der Studierenden und Dozenten, die Reisz aktiv unterstützte, führten zu einer breiten gesellschaftlichen Diskussion über Freiheit und Unterdrückung. Auf dem Heimweg von einer Demonstration kam Reisz die Erkenntnis, dass der Film ein Mittel sein muss, um die beunruhigende Atmosphäre seiner Heimat einzufangen. Nun startet der daraus entstandene Film „Eine Erklärung für Alles“ in den Kinos.
Darum geht es:
Als Abel bei seiner Abiturprüfung scheitert, sorgt dies plötzlich für einen landesweiten Aufruhr. Aus einem persönlichen Scheitern wird – befeuert durch Abels empörten Vater – ein Politikum ersten Ranges: Hat der Geschichtslehrer den Jungen etwa wegen dessen ungarischem Anstecker absichtlich durchfallen lassen?
Die Rezension:
Wenn man sich der filmischen Auseinandersetzung mit systemischen Verwerfungen in einer Gesellschaft nähert, in der politische Machtstrukturen und autoritäre Regierungsformen ihren Schatten auf alle Bereiche des Alltags werfen, scheint ein Fokus auf die individuelle Erfahrung besonders wichtig. Genau in diesem Spannungsfeld positioniert sich „Eine Erklärung für Alles“, der seine Handlung um einen Abiturienten in Budapest kreisen lässt, der an einer mündlichen Prüfung in Geschichte scheitert. Zwar mag die Erzählung auf den ersten Blick trivial erscheinen – schließlich sollte es genügen, die üblichen Fakten und Daten zu nennen, um die angestrebte Note zu erreichen. Doch der Film nutzt diese scheinbar nebensächliche Bildungsroutine, um ein komplexes, vielschichtiges Porträt einer politisch stark zerrütteten Gesellschaft zu entwerfen.
Ábels Blackout während der Abiturprüfung steht emblematisch für die Erstarrung und Orientierungslosigkeit einer ganzen Generation, die in einem politischen Klima aufwächst, das Polarisierung und Angst befeuert. Die patriotische Anstecknadel, die er versehentlich trägt, dient als Katalysator für eine Kettenreaktion von Konflikten, die auf unterschiedlichen Ebenen stattfinden: zwischen Lehrer und Schüler, liberalem Idealismus und konservativer Ideologie, individueller Moral und systemischer Repression. Reisz' Blick bleibt dabei distanziert und beobachtend, während er aufzeigt, wie Menschen wie Jakab oder Ábels Vater in einem System verfangen sind, das von Spaltung und Misstrauen lebt.
Reisz verweigert sich dabei einer klaren Einteilung seiner Charaktere in Gut und Böse. Stattdessen präsentiert er Figuren, die in ihrer Widersprüchlichkeit menschlich und nachvollziehbar wirken. Jakab, der Geschichtslehrer, ist kein makelloser Held der Opposition, sondern ein Mensch mit Eitelkeiten und Schwächen. György, Ábels konservativer Vater, ist kein fanatischer Nationalist, sondern ein pragmatischer Skeptiker, der mit den Herausforderungen seiner Umwelt kämpft. Diese multiperspektivische Erzählweise will Verständnis schaffen, nicht verurteilen.
Auch die Montage von Zsófia Tálas trägt wesentlich zur Wirkung des Films bei. Der episodische Aufbau, mit Kapiteln, die verspielte Titel tragen, gibt der Erzählung Struktur, ohne die narrativen Sprünge unübersichtlich wirken zu lassen. Dieser episodische Charakter ist kein willkürliches Stilmittel, sondern dient dazu, unterschiedliche Lebensbereiche und Perspektiven eng miteinander zu verknüpfen. Die Übergänge zwischen privatem Alltag, gesellschaftspolitischen Anspielungen und historischen Reminiszenzen wirken fließend. Auch hier trägt die Montage entscheidend zum Gelingen bei: Der Schnitt ist feinfühlig und unaufdringlich, schafft Verbindungen zwischen Szenen und Themen, ohne jemals das Publikum mit allzu offensichtlichen Querverweisen zu überfordern.
Auch wenn Filme, die solche exemplarischen Szenarien aufwerfen, oft dazu neigen, einfache Antworten zu liefern, bleibt Gábor Reisz hier bewusst vage und stellt uns stattdessen selbst vor die Frage, wie populistische Systeme wie das von Viktor Orbán Menschen dazu bringen, sich in einer Spirale aus Misstrauen und Feindseligkeit zu verlieren. Dabei wird deutlich, wie geschickt autoritäre Strukturen Narrative formen, die auf Emotionen wie Angst, Stolz und Schuld basieren, um Macht zu sichern. Ábels patriotische Nadel mag auf den ersten Blick banal erscheinen, doch sie wird zum Symbol für ein politisches Klima, in dem Symbolik mächtiger als Inhalte ist.
Ein zentrales Thema des Films ist der Einfluss von Medien und populistischem Journalismus. Eine Journalistin, die sich opportunistisch dem System anpasst, wird hier zur Verkörperung eines Journalismus, der Wahrheit und Ethik opfert, um persönliche Vorteile zu sichern. Gleichzeitig kritisiert der Film den reißerischen Sensationalismus, der in einer Gesellschaft, die auf schnelle Urteile getrimmt ist, immer mehr an Bedeutung gewinnt. Diese Ebene macht den Film besonders relevant in einer Zeit, in der Fakenews und manipulative Erzählungen weltweit politische Diskurse dominieren. Trotz seiner thematischen Ambitionen verliert „Eine Erklärung für Alles“ gelegentlich an Tempo. Einige wenige Passagen wirken etwas redundant und die Überlänge lässt den Film streckenweise stellenweise etwas träge erscheinen.
Das kann der Film allerdings durch sein spielfreudiges Ensemble wett machen. Im Mittelpunkt steht Gáspár Adonyi-Walsh als Ábel, ein junger Mann, der zwischen spätpubertärem Trotz und unbestimmter Orientierungslosigkeit schwankt. Adonyi-Walsh gelingt es, diese innere Zerrissenheit ohne überdeutliche Gesten auszudrücken: Sein Ábel wirkt im Schulkontext verstockt und verschlossen, doch sobald er mit Freundinnen und Freunden unterwegs ist, öffnet sich die Figur spürbar. Lilla Kizlinger spielt an seiner Seite einen spannenden Gegenpart: zwar ebenfalls jugendlich naiv, in ihrer Sicht der Dinge aber dennoch ganz anders. Sie verleiht Janka eine spürbare Mischung aus Schüchternheit, jugendlicher Unsicherheit und einer leisen, fast zaghaften Entschlossenheit, sich zu offenbaren.
András Rusznák als Lehrer Jakab lotet mit feinen Nuancen die Bandbreite zwischen idealistischem Intellektuellen und eitel-besserwisserischer Instanz aus. So wirkt er im Interview mit einem Zeitzeugen des Ungarnaufstands von 1956 leicht belehrend, beinahe akademisch überhöht, während er im direkten Kontakt mit seinen Schülern, etwa als Janka ihm ihre Zuneigung offenbart, empfindsam und unerwartet verständnisvoll agiert. Diese Ambivalenz macht Jakab zu keinem klaren Helden, sondern zu einer menschlichen Figur mit Stärken und Schwächen, die Rusznák präzise auf den Punkt bringt: Es sind Blicke, leichte Stimmveränderungen, ein fast unmerkliches Nachgeben in der Körperhaltung, die die Figur lebendig werden lassen.
Auch István Znamenák überzeugt als Ábels konservativer Vater György, indem er einen Mann zeichnet, der zwar streng, altmodisch und gelegentlich recht griesgrämig wirkt, dennoch aber authentische Fürsorge erkennen lässt. Znamenák betont Györgys beinahe widerwillige Zugeständnisse an den familiären Alltag: Er kümmert sich um den Haushalt, unterstützt den Sohn, nimmt es dabei aber fast zähneknirschend hin, dass die Welt nicht mehr so funktioniert wie in seinem eigenen Jugendideal. Diese subtile Ambivalenz zwischen liebevoller Verantwortlichkeit und unversöhnlicher Strenge, getragen von einem verhaltenen, aber intensiven Spiel, verhindert jede Überspitzung seiner Figur.
Gábor Reisz taucht tief in die Szenen ein, oft aus der Perspektive der Figuren, und erzeugt dadurch eine unmittelbare Nähe zum Geschehen. Kameramann Kristóf Becsey nutzt dokumentarische Stilmittel wie Handkamera und dynamische Schwenks, um den Realismus der Szenen zu verstärken. Die Bildsprache variiert gekonnt zwischen zurückhaltender Beobachtung und intensiver Teilhabe. Statt auf pompöse Musikuntermalung zu setzen, die möglicherweise die Emotionen der Zuschauenden manipulieren würde, bleibt der von Ádám Balázs komponierte Soundtrack dezent. Mal sind es Umgebungsgeräusche aus Budapester Straßen, mal die gedämpften Unterhaltungen in Wohnungen oder Klassenzimmern, die Authentizität vermitteln. Wenn Musik zum Einsatz kommt, geschieht dies punktgenau, um Stimmungen zu vertiefen, ohne sich dabei in den Vordergrund zu drängen.
Dass „Eine Erklärung für Alles“ in Ungarn kaum Beachtung findet, spricht Bände über das politische Klima im Land. Der Verzicht der ungarischen Filmförderung auf finanzielle Unterstützung sowie das Schweigen staatlich kontrollierter Medien zu den Festivalerfolgen des Films sind ein klares Zeichen für die Repressionen, denen Kulturschaffende unter Orbán ausgesetzt sind. Mit einem Budget von gerade einmal 100.000 Euro gelang Reisz und Produzentin Júlia Berkes dennoch ein Film, der weit über die Landesgrenzen hinaus für Aufmerksamkeit sorgt.
Fazit:
„Eine Erklärung für Alles“ ist weit mehr ist als ein Film über Ungarn. Es ist ein universeller Kommentar über die Mechanismen der Spaltung und die Rolle von Schuld und Verantwortung in polarisierten Gesellschaften. Mit seiner multiperspektivischen Erzählweise und seiner präzisen Beobachtungsgabe gelingt es Gábor Reisz, eine Parabel zu schaffen, die zugleich politisch und zutiefst menschlich ist.
>>> STARTTERMIN: Ab dem 19. Dezember 2024 im Kino.
Weitere Informationen zu „Eine Erklärung für Alles“:
Genre: Drama
Produktionsjahr: 2023
Laufzeit: 128 Minuten
Altersfreigabe: FSK 12
Regie: Gábor Reisz
Drehbuch: Gábor Reisz, Éva Schulze
Besetzung: Gáspár Adonyi-Walsh, István Znamenák, András Rusznák und viele mehr ...
Trailer zu „Eine Erklärung für Alles“:
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