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Toni Schindele

Kritik zu „Freud – Jenseits des Glaubens“: Intellektuelle Fechtkunst im Londoner Exil

Zwei prägende Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts, ein gemeinsamer Raum und der Schatten des Zweiten Weltkriegs im Nacken: In Matthew Browns „Freud: Jenseits des Glaubens“ treffen der alternde Psychoanalytiker Sigmund Freud und der aufstrebende C. S. Lewis in einem fiktiven Dialog aufeinander


Kritik zu „Freud – Jenseits des Glaubens“: Intellektuelle Fechtkunst im Londoner Exil
Bildnachweis: © X Verleih

Der US-amerikanischer Filmregisseur und Drehbuchautor Matthew Brown, der vor allem durch seinen Film „The Man Who Knew Infinity“ aus dem Jahr 2015 internationale Aufmerksamkeit erlangte, hat sich einem weiteren bedeutsamen Menschen der Geschichte angenommen. Nach seinem Biografiedrama über das indische Mathematikgenie Srinivasa Ramanujan und dessen Zusammenarbeit mit dem britischen Mathematiker G. H. Hardy folgt nun ein Film über Sigmund Freud und C. S. Lewis.


Darum geht es:


London, 3. September 1939. Der Krieg hat begonnen, und die Welt steht am Abgrund. In einem kleinen Haus im Exil ringen zwei brillante Köpfe des 20. Jahrhunderts um die zentralen Fragen der menschlichen Existenz. Sigmund Freud, geschwächt und dem Tod nah, wird von seiner Tochter Anna gepflegt, die zwischen bedingungsloser Loyalität und ihren eigenen Ambitionen hin- und hergerissen ist. Als der junge Gelehrte C.S. Lewis auftaucht, entfacht ein intensiver Disput über Glaube und Wissenschaft, Liebe und Moral, Hoffnung und die Dunkelheit der Zeit.


Die Rezension:


Die Annahme, dass eine unerwartete, womöglich niemals historisch belegte Begegnung zweier besonderer Menschen zu einem tiefgründigen Gedankenaustausch führen könnte, bildet häufig den kreativen Kern literarischer und filmischer Spekulationen. Dies gilt insbesondere dann, wenn die beteiligten Persönlichkeiten so gegensätzliche Positionen im Hinblick auf Religion, Wissenschaft und die Natur des menschlichen Bewusstseins vertreten wie der bedeutsame österreichische Psychoanalytiker Sigmund Freud und der irische Literaturwissenschaftler, spätere christliche Autor und Theologe C. S. Lewis. Der US-amerikanische Regisseur Matthew Brown wagt in seinem Film „Freud: Jenseits des Glaubens“ genau ein solches gedankliches Experiment, indem er ein fiktives, aber detailreich ausgestaltetes Gespräch zwischen dem sterbenskranken Freud und dem noch relativ jungen Lewis im Jahr 1939 inszeniert.


Kritik zu „Freud – Jenseits des Glaubens“: Intellektuelle Fechtkunst im Londoner Exil
Bildnachweis: © X Verleih / Sabrina Lantos

Diese Prämisse eröffnet nicht nur die Möglichkeit, fundamentale Fragen über Glauben, Atheismus, geistige Heilung und seelisches Leiden in erzählerischer Form auszuleuchten, sondern führt zugleich zu einem Spannungsfeld, in dem persönliche Traumata, weltanschauliche Dissonanzen und die Frage nach der Existenz Gottes miteinander ringen. Schon der historische Kontext verleiht dem Werk eine bedrückend bedeutsame Atmosphäre: Wir befinden uns kurz nach dem Einmarsch deutscher Truppen in Polen, der den Beginn des Zweiten Weltkriegs markiert. Freud, der renommierte Begründer der Psychoanalyse, lebt bereits im Londoner Exil, schwer krank und von den Strapazen der Flucht sowie seiner Krebserkrankung gezeichnet.


Der ältere Gelehrte, der einst die menschlichen Triebe und innerpsychischen Konflikte in einer radikal neuen Weise zu deuten versuchte, war Zeit seines Lebens ein entschiedener Kritiker religiöser Dogmen und metafunktionaler Erlösungsversprechen. Lewis hingegen hat einen umgekehrten Weg hinter sich: Als getaufter Ire, der sich in jungen Jahren von der Religion abwandte und lange ohne metaphysischen Halt lebte, fand er in den Dreißigern zum christlichen Glauben zurück, publizierte einflussreiche theologische Schriften und wurde mit seinen mythisch-fantastischen Erzählungen, wie den berühmten „Chroniken von Narnia“, zu einem prägenden Autor der christlich inspirierten Literatur des 20. Jahrhunderts.


Kritik zu „Freud – Jenseits des Glaubens“: Intellektuelle Fechtkunst im Londoner Exil
Bildnachweis: © X Verleih / Sabrina Lantos

Die dramaturgische Basis des Films speist sich aus einer ganzen Kette literarischer und intellektueller Vorlagen. Browns Werk adaptiert Mark St. Germains Bühnenstück „Freud’s Last Session“, welches auf Gedanken basiert, die unter anderem im Buch „The Question of God“ von Armand Nicholi, einem Harvard-Psychiater, formuliert wurden. Dort wird die Gegenüberstellung von Freuds atheistischem Weltbild mit jenem von Lewis, der seinen Glauben intellektuell begründet, literarisch verfeinert und apologetisch verteidigt, zu einem inneren Duell zweier Ideengebäude. In Browns Adaption dieser Motive entsteht ein dichtes Gesprächsgeflecht, in dem die Filmfiguren diese abstrakten, für viele Zuschauende noch immer hochrelevanten Fragen verhandeln: Wie lässt sich göttlicher Glaube rechtfertigen in einer Welt voller Leid, Krieg und Zerstörung?


Ist Religion lediglich ein psychologisches Konstrukt, ein infantiles Wunschdenken, oder kann sie als sinnstiftender Gegenentwurf zur rauen Realität dienen? Der Film generiert dabei ein intellektuelles Spannungsfeld, in dem weder Freud noch Lewis als reine Helden oder Irrende dargestellt werden, sondern vielmehr als ernstzunehmende Pole einer weiterhin aktuellen philosophisch-theologischen Debatte. Dass sich dieses inszenierte Aufeinandertreffen im Herbst 1939 abspielen soll – in jenen Tagen, als Großbritannien Deutschland den Krieg erklärte und Europa auf einen Abgrund zusteuerte – erhöht die emotionale Wucht der Auseinandersetzung. Freud ist vom Krebs gezeichnet, er verliert Teile seines Gebisses und ringt mit unerträglichen Schmerzen.


Kritik zu „Freud – Jenseits des Glaubens“: Intellektuelle Fechtkunst im Londoner Exil
Bildnachweis: © X Verleih / Sabrina Lantos

Doch statt die Welt religionsphilosophisch zu verklären, tritt er provokant atheistisch auf, lehnt jede Form der göttlichen Ordnung ab und sieht in religiösen Vorstellungen eher tröstliche Illusionen als rationale Wahrheiten. Lewis hingegen hat sich nach seiner Desillusionierung durch den Ersten Weltkrieg, in dem er als Soldat schreckliche Erfahrungen sammelte, von einer distanziert-rationalen Weltsicht hin zu einer Form des christlichen Glaubens entwickelt, die er durch Schriften und Vorträge offensiv vertritt. Die Kollision dieser beiden Haltungen, die sich über den Sinn von Leiden, die Rolle der Moral und das Verhältnis zwischen menschlicher Fantasie und göttlichem Schöpfungsakt erstreckt, ist der Motor des Films.


Dabei nutzt Brown auch Rückblenden, um den inneren Kosmos seiner Figuren plastisch darzustellen, etwa wenn es um traumatische Erinnerungen oder familiäre Bindungen geht. Spannend ist, wie der Film einerseits auf die historische Person Freuds und die reale Existenz von Lewis Bezug nimmt, andererseits aber eine literarisch motivierte Fiktion schafft. Ob die beiden sich jemals begegnet sind, ist kaum zu belegen und tatsächlich mehr Legende als Fakt. Doch für die dramaturgische Komposition ist Lewis als Konterpart ideal: Als einer der profiliertesten christlichen Apologeten des 20. Jahrhunderts, der zudem durch seine literarischen Fähigkeiten ein Gespür für Sinnbilder, Erzählstrukturen und moralische Botschaften besitzt, bietet er dem alternden Freud ausreichend argumentative Reibungsfläche.


Kritik zu „Freud – Jenseits des Glaubens“: Intellektuelle Fechtkunst im Londoner Exil
Bildnachweis: © X Verleih / Sabrina Lantos

So dient diese Konstellation nicht der bloßen Provokation, sondern soll aufzeigen, wie differenziert beide Seiten ihre Positionen begründen. Überhaupt ist die Frage nach der Rationalität des Glaubens, die Bedeutung des Leids und die Möglichkeit, geistige Gesundheit in einer Welt voll offener Wunden zu finden, ein zentrales Motiv des Films. Freud, der die Psyche durch die Entschlüsselung der Traumdeutung und die Untersuchung unbewusster Konflikte aufzubrechen verstand, erkannte im Religiösen keine Erlösung, sondern sah höchstens ein kulturell traditiertes Wunschdenken. Lewis hingegen, der im Grauen des Ersten Weltkriegs an die Abgründe des Menschseins stieß, fand in der christlichen Botschaft, in mythologischen Narrativen und in einer übergeordneten Sinnordnung eine Orientierung, die sich seinem einstig nüchternen Verstand erst allmählich erschloss.


Hier trifft also die tiefenpsychologische Skepsis auf eine theologische Zuversicht, und der Film nutzt diese Spannungsfelder, um ein Gesprächskammerspiel zu entwickeln, das trotz – oder gerade wegen – seiner theatralischen Herkunft in Dialogen, Gesten und Rückblenden besticht. Browns Regie-Entscheidungen sind von der Schwierigkeit geprägt, hochabstrakte Debatten in eine filmische Erzählform zu gießen. Die Kamera bleibt häufig nahe an den Protagonisten, um die Intensität ihrer Auseinandersetzungen einzufangen, ergänzt ihre Wortgefechte jedoch durch Sequenzen, die traumatische Erinnerungen, familiäre Verstrickungen oder emotionale Kontraste aufgreifen. Die Musik, die historischen Kostüme, die Gestaltung des Wohnraums – all diese Elemente sollen das Wechselspiel zwischen intellektueller Diskussion und emotionalem Unterbau verdeutlichen.


Kritik zu „Freud – Jenseits des Glaubens“: Intellektuelle Fechtkunst im Londoner Exil
Bildnachweis: © X Verleih / Sabrina Lantos

Gleichzeitig stellt sich die Frage, ob die filmische Umsetzung angesichts des dominierenden Dialogformats die Spannung durchgängig aufrechterhalten kann. Nicht immer gelingt es, die komplexen Ideen in ein dynamisches Kinoerlebnis zu überführen. Dennoch bietet „Freud: Jenseits des Glaubens“ die Gelegenheit, ein selten im Mittelpunkt stehendes Thema – nämlich die Kollision entgegengesetzter Weltanschauungen zwischen Atheismus und Theismus – in einer epocheprägenden Zeitlage anzuschauen. Man kann diese fiktionale Begegnung als ein Experiment betrachten, das zwar keine endgültigen Antworten liefert, wohl aber wichtige Fragen neu beleuchtet: Was ist Wahrheit im Angesicht existenzieller Bedrohung? Wie viel Trost darf sich die menschliche Seele durch Erzählungen, Mythen oder Dogmen gestatten, ohne in Selbstbetrug zu verfallen? Und inwieweit sind wir bereit, die Position des anderen ernsthaft anzuhören und zu reflektieren?


Matthew Brown setzt auf eine eher konventionelle, aber handwerklich solide Bildsprache, die dem Stückhaften der literarischen Vorlage eine gewisse Leinwandästhetik abringt, ohne das theatralische Grundgerüst gänzlich zu überdecken. Die Kamera verharrt häufig in ruhigen Einstellungen, die den Dialogen Raum zur Entfaltung geben, statt die Zuschauenden mit übermäßig dynamischer Bewegung abzulenken. Diese Zurückhaltung mag bisweilen unauffällig wirken, ist aber dem Ernst und der intellektuellen Schwere der Debatte angemessen. Auffällige ästhetische Experimente meidet Brown zwar weitgehend, doch unterstreicht gerade dieses Understatement die stillen Momente, in denen Mimik, Betonung und Gestik der Protagonisten die eigentliche Dramaturgie übernehmen.


Kritik zu „Freud – Jenseits des Glaubens“: Intellektuelle Fechtkunst im Londoner Exil
Bildnachweis: © X Verleih / Sabrina Lantos

In diesem Kontext erweisen sich die Darstellerleistungen als das entscheidende Bindeglied zwischen Text und Bildsprache. Anthony Hopkins, dessen Alter zwar in Interviews und auf dem Papier spürbar wird, nicht aber in seiner nach wie vor bewundernswerten Präsenz vor der Kamera, nähert sich der Rolle Freuds mit bemerkenswerter Genauigkeit. Er verleiht dem alternden Intellektuellen jene Mischung aus arroganter Überheblichkeit, ernüchterter Verzweiflung und trotziger Neugier, die für den inneren Konflikt des Psychoanalytikers essentiell ist. Matthew Goode bleibt als C. S. Lewis stets höflich-konzentriert, fast professoral, doch nie hölzern.


Er stellt, ohne große Gesten, einen intellektuellen Gegenpart dar, der ebenso unerschütterlich in seiner Überzeugung ist wie Freud in seiner Skepsis. Das Zusammenspiel der beiden ist von einer subtilen Dynamik geprägt, die im Dialog zwar mitunter altbekannte Fragen umkreist, aber eine Intensität aufbaut, die stilistisch auf stimmige Art von der zurückhaltenden Regie unterstützt wird. Neben den beiden männlichen Intellektuellen gibt es zudem einen Handlungsstrang über die Tochter von Sigmund Freud – Anna Freud, einnehmend gespielt von Liv Lisa Fries. Sie steht voll und ganz zu ihrem Vater und bringt doch eine andere Perspektive in die Erzählung. Zudem eröffnet sich durch sie der einzig wirklich kritische Blick auf Freud.


Kritik zu „Freud – Jenseits des Glaubens“: Intellektuelle Fechtkunst im Londoner Exil
Bildnachweis: © X Verleih / Sabrina Lantos

Die Ausstattung, das Kostümbild und der Umgang mit den begrenzten Schauplätzen vermitteln ein Gefühl von intimer Geschlossenheit, das an eine Theaterbühne erinnert, ohne jedoch gänzlich statisch zu wirken. Die Räume – Freuds Arbeitszimmer, der Luftschutzkeller, die vereinzelten Ausflüge in Rückblenden – sind so gewählt und ausgeleuchtet, dass sie der zeitlichen Epoche gerecht werden und gleichzeitig die seelische Enge, in der sich die Figuren bewegen, auf räumlicher Ebene widerspiegeln.


Hier gleitet die Kamera behutsam durch ein Setting, in dem Bücher, antike Statuen, Teppiche und historische Mobiliar Elemente des inneren Universums der Charaktere spiegeln. Diese zeittypischen Details verleihen den Dialogen eine gewisse Verankerung in einer Welt, die von Krieg, Exil und geistigen Umbrüchen geprägt ist, ohne dass die formale Gestaltung je zum bloßen Dekor herabsinken würde. Ob die erzählten Gedanken für jeden Zuschauenden aber neuartig, relevant oder spannend sind, bleibt Geschmackssache.


Fazit:


„Freud – Jenseits des Glaubens“ ist ein zurückhaltendes, gleichwohl präzise konzipiertes Drama, das trotz seiner Wurzeln im Bühnenstück durch die Kraft seines Ensembles, die nüchterne Klarheit der Inszenierung und eine dezente, aber passende filmische Rahmung über weite Strecken zu überzeugen weiß.

>>> STARTTERMIN: Ab dem 19. Dezember 2024 im Kino.


Weitere Informationen zu „Freud – Jenseits des Glaubens“:

Genre: Drama

Produktionsjahr: 2023

Laufzeit: 110 Minuten

Altersfreigabe: FSK 12


Regie: Matt Brown

Drehbuch: Mark St. Germain, Matt Brown

Besetzung: Anthony Hopkins, Matthew Goode, Liv Lisa Fries und viele mehr ...


Trailer zu „Freud – Jenseits des Glaubens“:


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