Kritik zu „Drei Kilometer bis zum Ende der Welt“: Zwischen Idylle und Intoleranz
- Toni Schindele

- 25. Sept.
- 5 Min. Lesezeit
Manchmal erzählen die entlegensten Orte die universellsten Geschichten. Und manchmal liegt am Ende einer scheinbar idyllischen Straße nicht die Freiheit, sondern ein Abgrund. Genau diesen Kontrast nimmt Emanuel Pârvu in „Drei Kilometer bis zum Ende der Welt“ in den Blick.

Wie sichtbar Minderheiten im Kino sind und welche Geschichten über sie erzählt werden, hat sich in den vergangenen Jahren deutlich verändert. Gerade internationale Festivals fungieren dabei immer wieder als Schaufenster für Werke, die gesellschaftliche Debatten aufgreifen und zugleich filmisch neue Zugänge suchen. Einer dieser Filme ist nun „Drei Kilometer bis zum Ende der Welt“ von Emanuel Pârvu. Der rumänische Schauspieler und Regisseur brachte sein drittes Spielfilmprojekt 2024 ins Rampenlicht von Cannes, wo das Werk im Hauptwettbewerb Premiere feierte und mit der Queer Palm ausgezeichnet wurde. Der rumänische Schauspieler und Regisseur betonte, er habe das Drehbuch aus der Überzeugung heraus entwickelt, dass jeder Mensch im Laufe seines Lebens als Teil einer Minderheit wahrgenommen werden könne. Mit diesem Ansatz wollte er eine neue Perspektive auf das Thema LGBTQ eröffnen.
Darum geht es:
Der 17-jährige Adi will seinen letzten Sommer im abgelegenen rumänischen Donaudelta genießen, bevor ein neues Leben in der Hauptstadt beginnt. Doch als seine Liebe zu einem Jungen bekannt wird, schlägt ihm plötzlich blanker Hass entgegen – von den Nachbarn, den Behörden und schließlich sogar von den eigenen Eltern. Mit der Wahrheit konfrontiert, reagieren diese nicht mit Verständnis, sondern mit Angst, Scham und fanatischem Eifer: Adis Mutter glaubt, er sei vom Teufel besessen, der Vater empfindet seine Homosexualität als unerträglich. Sie sperren ihn ein und holen den Priester, um ihn zu heilen. Nur seine beste Freundin Ilinca steht noch an seiner Seite. Doch kann sie ihn retten, bevor es zu spät ist – oder wird Adi an der Gewalt und Ignoranz seiner Umwelt zerbrechen?
Die Rezension:
Im rumänischen Donaudelta, einem UNESCO-Weltnaturerbe, durchziehen Kanäle, Schilf und Seen eine Landschaft, in der über 300 Vogelarten brüten. Doch Emanuel Pârvu macht in seinem neuen Film früh klar, dass hinter dieser Idylle eine Welt herrscht, die aus der Zeit gefallen scheint, und lässt dabei in vielerlei Hinsicht kein gutes Haar an seinem Heimatland. „Drei Kilometer bis zum Ende der Welt“ zeichnet das schonungslose Porträt einer in sich geschlossenen Dorfgemeinschaft, die durch religiöse Machtstrukturen, traditionalistische Familienbilder und den verinnerlichten Zwang zum gesellschaftlichen Konformismus zusammengehalten wird – und dabei jedes Abweichen von der Norm mit sozialer Vernichtung beantwortet. Das Schicksal des jungen Protagonisten, der wegen seiner Homosexualität Opfer brutaler Gewalt wird, legt den tief sitzenden Konservatismus offen, der Rumänien trotz europäischer Einbindung weiterhin prägt.

Erst 2001 wurde die Homosexualität in Rumänien entkriminalisiert, und auch heute fehlen Partnerschafts- oder Ehemodelle für gleichgeschlechtliche Paare. Zwar hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte das Land zuletzt wegen Untätigkeit gerügt, gesellschaftlich dominiert aber weiterhin konservative Ablehnung, gestützt durch die orthodoxe Kirche. So wenden sich in „Drei Kilometer bis zum Ende der Welt“ die Eltern von Adi auch an die Kirche und suchen Halt beim örtlichen Priester. In Rumänien ist die orthodoxe Kirche gesellschaftlich sehr prägend – und gerade in ihrem Umfeld häufen sich Berichte über problematische Rituale. Ein gesetzliches Verbot von Konversionstherapien existiert bis heute nicht, Menschenrechtsorganisationen dokumentieren fortbestehende „Heilungsangebote“, die von Gebeten bis zu pseudomedizinischen Maßnahmen reichen. Historisch reichte das Spektrum von aversiven Methoden im Spätsozialismus bis zum tödlichen Exorzismus von Tanacu 2005. Die katholische Kirche gibt sich zwar offiziell moderater, lehnt aber eine kirchliche Anerkennung gleichgeschlechtlicher Beziehungen ebenso weiterhin ab.
Emanuel Pârvu zeigt den Zerfall der scheinbar intakten Dorfgemeinschaft ohne plakative Effekte – subtil, aber unmissverständlich verdeutlicht der Film, wie Polizei, Kirche und Eltern nicht als schützende Instanzen auftreten, sondern ihre Autorität missbrauchen und das Opfer erneut zum Opfer machen. Adis unfreiwilliges Outing löst daher eine Täter-Opfer-Umkehr aus: Statt den Aggressoren Einhalt zu gebieten, verschiebt das gesamte Umfeld die Verantwortung auf den Jugendlichen, der „falsch“ liebt. Dabei inszeniert Pârvu dies auffälligerweise nicht wie individuelle Verfehlungen, sondern wie ein System aus reaktionären Denkmustern, das mit erschreckender Folgerichtigkeit funktioniert, sodass Adi irgendwann zur Erkenntnis kommt, dass er hier nicht mehr leben kann. Nicht unversöhnlich, aber auch ohne kitschiges Happy End, das am Ende noch alles narrativ hinbiegt, ist „Drei Kilometer bis zum Ende der Welt“ so auch ein Appell, dass starre Weltbilder schwer aufzubrechen sind. Pârvu richtet seinen Blick jedoch so konsequent auf die sozialen Mechanismen innerhalb der Gemeinschaft, dass die Innenwelt seines Protagonisten zunehmend in den Hintergrund tritt.
Adis Leid erscheint weniger als eigentlicher Kern der Erzählung, sondern vielmehr als Symptom gesellschaftlicher Dynamiken. Damit gewinnt der Film zwar analytische Schärfe in seiner Gesellschaftskritik, doch es fehlt ihm an emotionaler Tiefe. Statt einer Studie über den inneren Widerstand eines Jugendlichen entsteht vor allem eine Chronik der zerstörerischen Prozesse, die ein unfreiwilliges Outing nach sich ziehen kann. Weil der zurückhaltende Protagonist größtenteils schweigt und vom Drehbuch über seine sexuelle Orientierung hinaus kaum charakterliche Konturen erhält, wirkt er letztlich mehr wie ein dramaturgisches Vehikel. Identifikationspotenzial bietet daher allenfalls Adis Freundin Ilinca, die als Einzige an seiner Seite steht – ein Umstand, der den Zugang zu dieser Geschichte spürbar erschwert. Doch während Hauptdarsteller Ciprian Chiujdea als Adi weitgehend blass bleibt und nur selten aus dem Abziehbild gängiger Klischees über einen homosexuellen Jugendlichen ausbrechen kann, wirken die Gegenpole deutlich schärfer gezeichnet. Bogdan Dumitrache verleiht der Vaterfigur eine eindrucksvolle Ambivalenz: Zerrissen zwischen der Liebe zum eigenen Sohn und der Abscheu gegenüber dessen Homosexualität macht er die inneren Widersprüche eindrucksvoll sichtbar.

Besonders hervorzuheben ist jedoch Laura Vasiliu, die Adis Mutter Maria mit einer beklemmenden Mischung aus Fürsorge und religiösem Fanatismus spielt. In einer der eindrücklichsten Szenen hält sie ihren verletzten Sohn zunächst tröstend im Arm, nur um ihn im nächsten Moment fesseln zu lassen, damit kirchliche Rituale ihn von der vermeintlichen Sünde befreien sollen. Handwerklich überzeugt Emanuel Pârvus Film durch eine ruhige, unaufgeregte Inszenierung, die zwar kaum originelle Einfälle bietet und in einem konventionellen Rahmen bleibt, dafür aber den Themen selbst Raum zur Entfaltung lässt. Die überwiegend langen, statischen Einstellungen verleihen dem Geschehen eine beinahe dokumentarische Präzision und machen die Ausweglosigkeit der Figuren spürbar. Die Kameraarbeit von Silviu Stavilă setzt vor allem dann Akzente, wenn sie die Weite und Schönheit des Donaudeltas immer wieder in Kontrast zur Enge des sozialen Mikrokosmos stellt, der die Bewohner unentrinnbar gefangen hält.
Fazit:
„Drei Kilometer bis zum Ende der Welt“ ist kein Film über einen Jugendlichen, der an seiner Umwelt zerbricht, sondern über eine Umwelt, die nur bestehen kann, indem sie ihre Kinder bricht. Emanuel Pârvus neuer Film überzeugt mit schonungsloser Systemkritik, ruhiger Inszenierung und beklemmender Konsequenz, bleibt jedoch durch die blasse Hauptfigur und die ausgesparte Innenwelt emotional auf Distanz.
>>> STARTTERMIN: Ab dem 25. September 2025 im Kino.
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Weitere Informationen zu „Drei Kilometer bis zum Ende der Welt“:
Genre: Drama
Laufzeit: 105 Minuten
Altersfreigabe: FSK 12
Regie: Emanuel Parvu
Drehbuch: Emanuel Parvu und Miruna Berescu
Besetzung: Ciprian Chiujdea, Bogdan Dumitrache, Laura Vasiliu und viele mehr ...
Trailer zu „Drei Kilometer bis zum Ende der Welt“:





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