In „Gloria!“ hinterfragt Margherita Vicario patriarchale Strukturen und das Musikgeschäft, doch das nicht direkt mit gegenwärtigem Bezug. Denn ihr Film versetzt uns ins Jahr 1800, ins Venedig der Ospedali.
Mit „Gloria!“ gibt die italienische Singer-Songwriterin und Schauspielerin Margherita Vicario ihr Regiedebüt und taucht tief in die Geschichte der weiblichen Musik ein. Der Film ist das Ergebnis ihrer intensiven Recherche über die Rolle von Frauen in der Musik, die sie zu den vier Ospedali in Venedig führte – Waisenhäuser, die im 18. Jahrhundert hochkarätige musikalische Ausbildung boten. Trotz ihres Talents und ihrer Ausbildung blieben diese Künstlerinnen oft im Schatten ihrer männlichen Kollegen. Vicario, die sich seit Jahren mit der Rolle der Frauen in der Musik beschäftigt, nutzte nun „Gloria!“ als Plattform, um diesen übersehenen Stimmen eine Stimme zu verleihen.
Darum geht es:
Im Venedig des Jahres 1800 lebt die stille Magd Teresa im heruntergekommenen Kollegium Sant'Ignazio, einer Musikschule für Mädchen, die von ihrem Umfeld nur als „die Stumme“ bekannt ist. Ihr Alltag besteht aus den niederen Arbeiten des Hauses, während ihre außergewöhnliche Gabe, die Harmonie des Universums durch Musik zu erfassen, unbemerkt bleibt. Als das Kollegium den Besuch des frisch gekrönten Papstes vorbereitet, steht der alte Kapellmeister vor der Herausforderung, eine neue Komposition für diesen erhabenen Anlass zu schaffen – doch seine Bemühungen bleiben fruchtlos.
Währenddessen entdeckt Teresa in einer verstaubten Abstellkammer ein neues Klavier, dessen Schönheit sie tief berührt. Gemeinsam mit einer Gruppe ebenso außergewöhnlicher Musikerinnen bricht sie die strengen Konventionen ihrer Zeit und kreiert eine rebellische und frische Musik, die als die Geburt der Popmusik in die Geschichte eingehen könnte. Wird Teresa es schaffen, ihre verborgene Kunst zu enthüllen und das musikalische Establishment auf den Kopf zu stellen?
Die Rezension:
„Gloria!“ setzt an einem ungewöhnlichen und zugleich faszinierenden Punkt in der Musikgeschichte an: Die Handlung spielt im Jahr 1800 in Venedig, einer Stadt, die zu jener Zeit stark von der Opernmusik dominiert wurde. Während Komponisten wie Gioachino Rossini und Giuseppe Verdi, die ihre Karrieren erst später im 19. Jahrhundert beginnen sollten, die Musikwelt revolutionierten, konzentriert sich „Gloria!“ auf eine fiktive musikalische Bewegung, die weit ihrer Zeit voraus scheint. In dieser Geschichte, die sowohl historische Fakten als auch kreative Fiktion miteinander verwebt, thematisiert die Regisseurin und Elektropopmusikerin Margherita Vicario die Geburt einer neuen, individualistischen Musikform, die als eine Art Vorläufer der modernen Popmusik interpretiert werden kann.
Vicario bedient sich dabei eines gezielten Anachronismus, indem sie Elemente der Popmusik in eine Zeit zurückversetzt, die vor allem von klassischer und kirchlicher Musik geprägt war. Diese Entscheidung ermöglicht es ihr, die strengen gesellschaftlichen und musikalischen Normen jener Epoche zu hinterfragen. Im Zentrum des Films stehen Teresa und ihre Freundinnen, die sich weigern, die ihnen auferlegten Grenzen zu akzeptieren. Stattdessen entwickeln sie einen unkonventionellen Stil, der eher an improvisierten Jazz erinnert und die strikte Trennung zwischen sakraler und profaner Musik aufhebt. Durch die Einbettung dieser musikalischen Rebellion in die konservativen Strukturen Venedigs um 1800, illustriert der Film eindrucksvoll den Konflikt zwischen Tradition und Moderne.
Vicarios Film ist ein leidenschaftliches Plädoyer für die künstlerische und persönliche Freiheit. Die historischen Fakten werden dabei bewusst zugunsten einer dramatischen Erzählung und einer idealisierten Darstellung der Emanzipation vernachlässigt. Der Film, der mit seiner lebhaften Inszenierung und dynamischen Montagen beeindruckt, schwelgt in einem ästhetischen Stil, der sich an der Grenze zwischen Historienfilm und modernem Melodrama bewegt. Die strengen kirchlichen Autoritäten und ihre bürgerlichen Geldgeber werden zu eindimensionalen Antagonisten stilisiert, gegen die die jungen Protagonistinnen rebellieren. Diese Rebellion kulminiert in einem musikalischen Skandal, der Kirche und Papst erzürnt.
„Gloria!“ spielt mit der Idee, einer Gruppe von Komponistinnen, die in den Geschichtsbüchern kaum Erwähnung finden, ein posthumes Denkmal zu setzen. Diese Frauen, deren Werke oft in den Archiven verstaubten und deren Namen zwischen den Seiten der Geschichte verborgen blieben, bekommen durch „Gloria!“ nun eine Stimme. Am Ende des Films liest man eine Widmung, die diesen „gepressten Blumen“ gewidmet ist – den Musikerinnen, deren kreative Leistungen weitgehend übersehen wurden.
Da die tatsächlichen historischen Informationen über diese Frauen spärlich sind, lässt der Film die Möglichkeit offen, dass einige von ihnen bereits weit über ihre Zeit hinaus komponierten, was Vicario nutzt, um eine Geschichte der Befreiung und des kreativen Aufbruchs zu erzählen. Der historische Kontext wird dennoch nicht vollständig ignoriert: Die französische Besatzung unter Napoleon und die damit einhergehenden politischen Umbrüche, die zum Niedergang der Republik Venedig führten, bieten einen dramatischen Hintergrund, vor dem die Geschichte der Figuren, wie die der Magd Teresa, entfaltet wird. Teresa, die durch die napoleonischen Kriege traumatisiert ist, steht symbolisch für den Aufbruch und das Streben nach Freiheit, das die gesamte Handlung des Films durchzieht.
Visuell besticht „Gloria!“ durch eine hochwertige, an Gemälde erinnernde Ästhetik, die jedoch stellenweise etwas farblos wirkt. Die Musik, ein Hybrid aus klassischer Kirchenmusik und modernen Beats, sorgt für eine spannende und unerwartete Klangkulisse. Ein Techno-Beat, der sich subtil in ein Klavierexperiment einschleicht, während eine Magd im Takt mit dem Kopf nickt – ein symbolisches Bild für die Fusion von Tradition und Moderne. Die klassische Musik wie auch die Kirche selbst sind hier ein Sinnbild der alten Konventionen, die durchbrochen werden.
Trotz der ernsten Themen, die „Gloria!“ in seiner Handlung aufgreift – darunter eine um Haaresbreite verhinderte Zwangsheirat mit einem betagten Witwer, der priesterlich vertuschte sexuelle Missbrauch mit anschließender Schwangerschaft und Kindesentzug sowie eine tragische Liebesgeschichte, die in einem Suizidversuch gipfelt – wird all dies nie wirklich bedrohlich oder schwer inszeniert. Über dem gesamten Film liegt eine spürbare Leichtigkeit, die sich wie ein schützender Schleier über die düsteren Aspekte der Geschichte legt. Die musikalische Revolution, die im Zentrum der Erzählung steht, wird mit einer spielerischen Leichtigkeit und einem feinen Hauch von Ironie dargestellt, sodass „Gloria!“ weniger als ernsthaftes Historiendrama, sondern vielmehr als modern erzählter feministisch emanzipatorischer Feel-Good-Movie erscheint, der gerade auch von seinem Ensemble lebt.
Teresa und ihre Freundinnen bilden im Verlauf des Films eine zunehmend enge und loyale Gemeinschaft, deren Interaktionen den Zuschauenden fesseln. Die Chemie zwischen den Charakteren entwickelt sich dabei zu einer zentralen Stärke der Erzählung, wodurch ihre Dynamik besonders spürbar wird. Galatéa Bellugi verkörpert die charismatische Teresa mit beeindruckender Präsenz, insbesondere durch ihr nuanciertes, fast ausschließlich mimisches Spiel.
Fazit:
Margherita Vicario gelingt es, in schwungvoller Erzählweise eine leichte und stilvolle Hommage an die vergessenen Komponistinnen Venedigs zu schaffen, die zum Ende hin zwar etwas in Richtung Seifenoper abdriftet, aber dennoch äußerst sehenswert ist.
7 von 10 Punkten
>>> STARTTERMIN: Ab dem 29. August 2024 im Kino.
Weitere Informationen zu „Gloria!“:
Genre: Drama, Musikfilm
Produktionsjahr: 2023
Laufzeit: 106 Minuten
Altersfreigabe: FSK 12
Regie: Margherita Vicario
Drehbuch: Anita Rivarolli und Margherita Vicario
Besetzung: Galatéa Bellugi, Carlotta Gamba, Veronica Lucchesi und viele mehr ...
Trailer zu „Gloria!“:
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