Von nun an ist „Killers Of The Flower Moon“, der neue Film von Kino-Maestro Martin Scorsese, auf der großen Leinwand zu sehen. Warum sollte die stattliche Laufzeit von über drei Stunden niemanden abschrecken, und was macht diesen Film so besonders?
Bildnachweis: © Paramount Pictures
Martin Scorsese meldet sich nach „The Irishman“ mit einem neuen Film zurück, der glücklicherweise wieder auf die große Kinoleinwand kommt. Sein neues Werk basiert auf dem Bestseller von David Grann aus dem Jahr 2017, der die grausame, aber wahre Geschichte des Osage-Stammes in Oklahoma in den 1920er-Jahren erzählt, bei der dreißig brutale Morde verübt wurden. Eine deutsche Übersetzung von Henning Dedekind erschien im selben Jahr unter dem Titel „Das Verbrechen: Die wahre Geschichte hinter der spektakulärsten Mordserie Amerikas“ im btb Verlag.
Paramount Pictures erwarb rasch die Filmrechte, jedoch aufgrund der hohen Drehkosten von 180 bis 200 Millionen US-Dollar in Oklahoma suchten sie nach einer zusätzlichen Produktionsgesellschaft. Im Mai 2020 übernahm Apple schließlich die Produktion und gewährte Scorsese nahezu vollständige kreative Freiheit. Dennoch behandelte Scorsese das sensible Thema der amerikanischen Geschichte mit großer Sorgfalt, ohne es zu beschönigen, um den Anliegen der Osage-Indigenen gerecht zu werden.
Im Jahr 2019 forderte ein Anwalt, der den Osage angehört, Martin Scorsese in einem direkten Schreiben auf, die Geschichte wahrheitsgetreu zu erzählen. Der Regisseur und sein Team reisten daraufhin tatsächlich nach Pawhuska in Oklahoma, um sich mit rund 200 Osage-Mitgliedern zu treffen und zu sprechen. Jim Gray, ein Urenkel eines Osage-Mitglieds, dessen Geschichte eine zentrale Rolle in „Killers Of The Flower Moon“ spielt, betonte, dass die Geschichte nicht verschönert werden sollte, sondern einfach erzählt werden muss. Scorsese versprach, nicht aufzuhören, „bis es richtig ist“.
Bildnachweis: © Paramount Pictures
Dieses Treffen führte zu maßgeblichen Änderungen am Drehbuch und der Besetzung. Im Film wurden zahlreiche Figuren mit tatsächlichen Osage-Mitgliedern besetzt, um eine authentischere Darstellung zu gewährleisten. Das Drehbuch wurde angepasst, um einen noch intimeren und authentischeren Blick auf die Osage-Kultur zu ermöglichen. „Killers Of The Flower Moon“ soll nun stark von der Osage-Kultur geprägt sein. Dennoch bleibt eine andere Frage offen: Ist der Film auch darüber hinaus gelungen?
Darum geht es:
Im nördlichen Oklahoma offenbart sich ein fatales Geheimnis: Öl, das schwarze Gold, wird entdeckt und die Osage wurden über Nacht zu den wohlhabendsten Menschen der Welt. Doch für die einheimischen Ureinwohner wird dieser Schatz zu einem Fluch. Reiche, skrupellose Weiße wittern das große Geld und sind bereit, über Leichen zu gehen, um es zu ergattern.
Bildnachweis: © Paramount Pictures
Inmitten dieser Gier und Gewalt steht William Hale, ein Mann ohne Skrupel und moralische Grenzen, der seinen Neffen Ernest Burkhart in seine dunklen Pläne verstrickt. Gemeinsam schmieden sie eine verschlagene Verschwörung, um ihre Macht und ihren Reichtum zu mehren.
Die Rezension:
Während David Grann in seinem Buch die Perspektive der Außenstehenden einnahm, wie das FBI Licht in das verworrene Netz aus Lügen, Intrigen und Schweigen brachte und letztlich die Mörder des grausamen Osage-Massakers vor Gericht zerrte, versuchte Martin Scorsese, der zwar nah an den Fakten und der literarischen Vorlage blieb, einen ganz anderen Ansatz. Anstelle eines klassischen Whodunit-Krimis zeigt Scorsese von Anfang an, wer die Strippen zieht, den Mord plant und schließlich ausführt.
Der Film erzählt aus der Sicht der titelgebenden Mörder, wie sie sich einschleichen, Beziehungen aufbauen, sich verlieben und letztendlich dem Geld und der Gier verfallen. Dieser Ansatz legt den Fokus nicht nur auf die Spannung, sondern auch auf die Brutalität der Tatsache, dass wir miterleben, wie die indigene Bevölkerung den Weißen vertraut, ihre Kultur teilt, nur um am Ende rücksichtslos verraten und niedergestreckt zu werden.
Bildnachweis: © Paramount Pictures
Diese filmische Perspektive gelingt jedoch nur dann, wenn man ein feines Gespür für charaktergetriebene Geschichten und ein Verständnis für menschliche Dynamiken besitzt – oder eben auf den Namen Martin Scorsese hört. Gier ist das zentrale Thema seiner Filmografie – ob in „GoodFellas – Drei Jahrzehnte in der Mafia“, „The Wolf of Wall Street“ oder auch zuletzt „The Irishman“. Scorsese widmet sich in seinen Filmen oftmals den menschlichen Abgründen, was einen Menschen dazu treibt, wortwörtlich über Leichen zu gehen. In „Killers of the Flower Moon“ vereint er in gewisser Weise viele Elemente, die er bereits im Verlauf seiner langen Karriere inszenierte und spinnt aus allem ein vielschichtiges Bild.
Bereits zum zehnten Mal tritt Robert De Niro in einem Scorsese-Film auf. Obwohl er bereits sehr viele großartige Verkörperungen in seiner bereits langen Karriere hatte, spielt er als William Hale eine seiner bisher besten Rollen. Er personifiziert die Gier im Menschen, die nie gestillt werden kann. Er ist der mächtige weiße Mann, der sich seiner Macht bewusst ist und sie in jedem Moment ausstrahlt. Er hält alle Fäden in der Hand, manipuliert alles und jeden. Selbst wenn man weiß, dass es anders sein sollte, verführt uns die geniale Darstellung von Hollywoodlegende De Niro, lässt uns zweifeln und erzürnt uns gleichermaßen, so böse ist seine Figur. Jeder Blick oder jede Geste gelingt ihm in einer Weise, die lange in Erinnerung bleibt.
Bildnachweis: © Paramount Pictures
Das Gleiche trifft auch auf Hauptdarsteller Leonardo DiCaprio zu, den man so sicher noch nie erlebt hat. Oftmals war er der blonde Schönling, der mit seinem Charisma Rose DeWitt Bukater in „Titanic“ den Kopf verdrehte oder in „Catch Me If You Can“ als Hochstapler und Fälscher alle austricksen konnte. Hier ist er jedoch der dümmliche, naive Gehilfe des Bösen. Während De Niro das absolut Böse ist, ist DiCaprio kein eindimensionales Abbild eines Handlangers. Er verkörpert einen komplexen Charakter, der schwere Entscheidungen zwischen Liebe und Verrat treffen muss und immer wieder vor der Entscheidung steht, das Richtige zu wählen.
Seine charakterliche Reise wird von DiCaprio faszinierend gespielt, und er zeigt einmal mehr, dass er ein großer Schauspieler ist. Sein gesamtes Auftreten, seine herausragende mimische Arbeit und sein feines Gespür für die Szenen erzeugen einen äußerst spannenden Charakter zwischen Protagonist und Antagonist, bei dem man es sich beim Anschauen von „Killers Of The Flower Moon“ nicht zu einfach machen sollte.
Bildnachweis: © Paramount Pictures
Die moralische Instanz dieser Geschichte bildet Lily Gladstone in der Rolle der Osage-Frau Molly. Da sie unmittelbar mit den Morden verbunden ist, vermittelt sie immer wieder die emotionale Wucht und Bedeutung des Gesehenen. Mit ihren fein formulierten Dialogen und ihrer starken Körpersprache zeigt sie exemplarisch, wie das stolze indigene Volk niedergestreckt wird. Das Spiel von Lily Gladstone ist absolut oscarwürdig. Aber auch sonst enttäuscht niemand in dieser hochkarätigen Besetzung. Jede noch so kleine Rolle wurde beeindruckend entwickelt und eingeführt. So glänzt auch Brendan Fraser, der dieses Jahr bei den Oscars als „Bester Hauptdarsteller“ für „The Whale“ ausgezeichnet wurde, in seinen nur wenigen Momenten, ebenso wie Jesse Plemons und die großartige indigene Schauspielerin Tantoo Cardinal.
In eine äußerst atmosphärische Inszenierung eingebettet, verzichtet Scorsese konsequent auf Effekthascherei. Mit zunehmender Dramatik des Films werden die Szenen immer ruhiger. Der Soundtrack, der anfangs energisch in die Welt des Osage-Gebiets einführt, wird stetig minimalistischer und verstummt schließlich stellenweise ganz.
Bildnachweis: © Paramount Pictures
Scorsese setzt in „Killers Of The Flower Moon“ auf die Kraft der Stille. Obwohl die Handlung nicht laut ist, erzeugen die Bilder dennoch eine nervenzerreißende Spannung. Scorsese überlässt es der Bildsprache und den schauspielerischen Leistungen, die Emotionen zu vermitteln, ohne den Zuschauer zu überfordern. Der Soundtrack bleibt dezent und verrät nie, wenn etwas Böses geschieht oder eine Bedrohung naht. Besonders hervorzuheben ist die Kameraführung von Rodrigo Prieto, der ein faszinierendes Gespür für die Wahl der Kameraperspektiven und filmischen Techniken beweist. Sei es das leichte Wackeln der Kamera bei einer Kutschenfahrt oder die geschickte Auswahl der Blickwinkel - "Killers Of The Flower Moon" zeichnet sich durch eine meisterhafte Bildsprache aus.
„Killers Of The Flower Moon“ nutzt die Stille geschickt als Stilmittel, aus der die Mörder still und heimlich auftauchen. Zum dramatischen Höhepunkt hin findet ein entscheidender Dialog in völliger Stille statt, während die Leinwand förmlich erzittert. Scorsese zeigt erneut, was großes Leinwandkino ausmacht, ohne auf Effekthascherei oder einen generischen Soundtrack zurückzugreifen. Der Film präsentiert episches Old-School-Kino, das heutzutage selten geworden ist und wohl nur noch bei Altmeistern wie Scorsese zu finden ist.
Bildnachweis: © Paramount Pictures
Zum Finale hin gewinnen auch die Dialoge an entscheidender Bedeutung. In den komplexen Dialogen gelingt es Scorsese und Drehbuchautor Eric Roth, Beziehungen zu entwickeln und Charaktere zu formen, die von einer bemerkenswerten psychologischen Tiefe und Präzision durchzogen sind. Vielseitig – mal ironisch und banal witzig, mal tragisch, dramatisch und emotional, sind die Dialoge großartig formuliert. Trotz der Komplexität des Geschehens und der darin liegenden Tragik überrascht der Film immer wieder mit Humor, mal subtil, mal augenzwinkernd, der immer wieder auf das Publikum überspringt.
„Killers Of The Flower Moon“ wird von vielen Kinos als Western-Krimi vorgeschlagen – doch der Film ist so viel mehr. Sehr früh wandelt sich das Western-Genre in eine durchaus ambivalente Romanze, die wiederum in ein gesellschaftskritisches Drama übergeht, immer wieder Mafia/Gangsterfilm-Anleihen versprüht, uns Ermittlungen im Stile eines FBI-Krimi/Thrillers mit realen Begebenheiten präsentiert, ehe schließlich alles in einem Gerichtsdrama kulminiert. Zum krönenden Abschluss setzt Scorsese mit einem ungewöhnlich präsenten und langen Cameo-Auftritt eine nachhallende Schlusspointe. Der Film bietet so viel, da verfliegen die 206 Minuten Lauflänge wie im Flug!
Fazit:
„Killers Of The Flower Moon“ ist ein eindringlicher Film, der unter der Regie von Martin Scorsese eine einzigartige Perspektive auf die wahren Ereignisse des Osage-Massakers bietet. Martin Scorsese schafft eine einzigartige Perspektive aus Sicht der Mörder, was die Brutalität der historischen Ereignisse intensiv erlebbar macht. Es ist ein epochaler Monumentalfilm, der zweifellos das Prädikat „ganz großes Kino“ verdient und unbedingt auf der größtmöglichen Kinoleinwand genossen werden sollte!
9 von 10 Punkten
„Killers Of The Flower Moon“ ist seit dem 19. Oktober 2023 in den Kinos.
Comments