Nach „Searching“ ist der nächste großproduzierte Screenlife-Thriller im Kino angelaufen, der auf einer Geschichte der selben Macher basiert. Wurde in „Searching“ eine verschwundene Tochter gesucht, fehlt in „Missing“ die Mutter. Doch auch wenn der Film recht ähnlich vermarktet wird, steckt ein ganz anderer Film dahinter, der viel mehr zu bieten hat, als man vermuten könnte ...
Bildnachweis: ©2022 CTMG, All Rights Reserved.
Der True-Crime-Hype ist gigantisch. Erst letztes Jahr erreichte die Netflix-Serie über den Serienmörder Jeffrey Dahmer unglaubliche Abrufzaheln. Doch schon während die Serie auf dem Streaming-Dienst begeisterte, meldeten sich Betroffene, die das Wiederhochholen der grauenhaften Vergangenheit schrecklich empfanden. Als außenstehende Person kann man es nachvollziehen, oder eben auch nicht. Letztlich ist es in dieser Frage unwichtig, da man eben nicht betroffen ist. Doch was ist, wenn einer deiner Liebsten verschwindet und jeder darüber fabuliert, was wohl geschehen sein mag?
Darum geht es:
Während Mutter Grace und ihr neuer Freund Kevin in Kolumbien im Urlaub waren, hatte die 18-jährige Junes Sturmfrei, oder mit anderen Worten eine geile Zeit. Eine wilde Woche voller Partys liegt hinter ihr, als sie inmitten der Überreste der letzten Fete erwacht und ihr Wecker ankündigt, dass sie bereits beim Flughafen sein müsste, um ihre Mutter abzuholen. Hektisch fährt sie zum Flughafen, doch von Grace und Kevin fehlt jede Spur. Mehr noch, sie haben den Flug nie angetreten. Im Hotel sind noch alle Koffer und alle Nachrichten und Anrufversuche von Junes bleiben unbeantwortet. Völlig verzweifelt wendet sie sich ans FBI, doch ihre Nachforschungen werden von internationaler Bürokratie behindert.
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Tausend Kilometer von Kolumbien entfernt, kann Junes unmöglich aus Los Angeles weg, untätig bleibt sie aber nicht. Mit der heutigen Technik affin, ermittelt sie auf eigene Faust im Netz und sucht nach all erdenklichen Spuren, um ihre Mutter wieder zu finden. Doch je mehr sie recherchiert, desto mehr Fragen tun sich auf und auch wenn schnell klar ist, dass am neuen Freund Kevin etwas faul ist, muss sie sich auch der Frage stellen, wie gut sie ihre Mutter eigentlich wirklich kennt. Kann Junes sie durch das Internet aufspüren?
Die Rezension:
„Missing“ ist in jedem Fall ein sehr besonderer Film, da der Zuschauer die Handlung ausschließlich über die technischen Möglichkeiten verfolgt, über den Computer- oder Handybildschirm, die Webcam und Überwachungskamera. Die klassischen Kameraperspektiven werden außer Acht gelassen und so erzählt der Screenlife-Thriller in den Größenverhältnissen technischer Geräte, wie einer Smartwatch, was für das Kinopublikum eine neuartige Erfahrung ist. Teils wird nur der Bruchteil der Leinwand gefüllt, teils ist der Desktop der Protagonistin so überfüllt, dass es zu einer Reizüberflutung kommt. So ist es nicht möglich, sich als Zuschauer berieseln zu lassen, mit wachem Auge ist man gefordert, dem schnell variierenden Fokuspunkt auf der großen Leinwand zu folgen.
Dabei ist die Webcam-Perspektive weit mehr als ein nettes Gimmick, wird sehr zielgerichtet und authentisch eingesetzt und macht den Reiz des Films erst aus. Erzählt „Missing“ von einer jungen Frau aus den Vereinigten Staaten, die unmöglich selbst in Kolumbien ermitteln kann, aber von zu Hause, mit den heutigen technischen Möglichkeiten, doch einiges herausfinden kann, so ist die gewählte Perspektive zwar auf den ersten Blick krass und sicher auch für einige Kinobesucher herausfordernd, jedoch auch konsequent. Auch wenn die Perspektive der Webcam oder Überwachungskamera per se starr ist, kann durch einen springenden Wechsel der Perspektiven innerhalb der diversen Überwachungskameras doch ein bewegliches, lebhaftes Bild entstehen.
Zwar belässt der Film im Großen und Ganzen die Szenen in sich, schneidet kaum, doch gruselige Momente sind stark geschnitten. So wie die Musik dramatische Höhepunkte oftmals ankündigt, wurde trotz des kargen Schnittstils einiges versucht, damit der Film von einem jüngeren Publikum angesehen werden kann. Schockmomente sind allerdings auch nicht das Konzept des Film, der einen wendungsreichen Thriller beschreibt.
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Zurück zur Technik, die einerseits gewaltige Möglichkeiten bietet, doch auch Grenzen hat. In der Vergrößerung verlieren so auch hier die Bilder an Schärfe und es werden immer mehr Pixel sichtbar, was gerade in einem Schlüsseldialog im Finale des Streifens ein interessanter Ansatz ist. Wird am Set in der Regel minutiös darauf geachtet, dass Ausleuchtung und Kameraeinstellung perfekt das Szenario einfangen, ist es in „Missing“ die folgerichtige Entscheidung, Mut zur Lücke zu haben. Was aber nicht heißt, dass weniger am Set gearbeitet wurde – ganz im Gegenteil – gerade durch die vielseitig verwendete Farbgebung können auch im unscharfen Bild Kontraste herausgearbeitet werden, die die Stimmung der Szenen prägt.
Doch auch wenn der Film weitere Laster der neuen Technik, wie kurze Aussetzer einer Übertragung, subtil integriert, stehen vor allem die unglaublichen Möglichkeiten im Fokus, mit denen Junes – ob legal oder illegal – ihre Mutter sucht. Dabei ist unsere Protagonistin keine wirkliche Hackerin, sie ist ein Mädchen der heutigen Zeit, welches sehr vertraut mit ihren Geräten ist. Auch wenn die Dramaturgie manches auf die Spitze trieb, steckt im Grundelement ihrer Ermittlungen ein wahrer Kern: Die Anonymität, die viele im Internet vermuten und wollen, ist leicht aufzuhebeln, blockierte und gelöschte Inhalte verschwinden nicht einfach. Das Netz ist kein rechtsfreier Raum und fliegt die Anonymität auf, ist es nicht mehr „nur" das Internet. So bedarf es keinem sonderlich ausgeklügelten Hackangriff, um sich Zugang zum Google-Konto zu verschaffen, dem Herzstück der Internet-Aktionen vieler Menschen. Mit etwas Raffinesse kann jeder Schritt im World Wide Web nachverfolgt werden. Da wirkt es geradezu ironisch, wenn auf dem Desktop ein VPN-Dienst eingeblendet wird …
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In diesem vom technischen Rahmen geprägten Film sollte man die Handlung allerdings nicht unter den Tisch kehren. Denn das Drehbuch, welches von den Regisseuren Will Merrick und Nick Johnson verfasst wurde, bietet den Zuschauenden in den 111 Minuten der Laufzeit einen spannenden, wendungsreichen lupenreinen Thriller. Von Anfang an hat der Streifen ein sehr hohes Pacing und auch wenn die expositorische Einleitung ungewöhnlich ausführlich ist, zu lang geraten ist sie nicht. Zum einen, da alle Szenen recht pointiert sind und zum anderen, da es unverzichtbar ist, die Protagonistin Junes erst einmal in ihrem Charakter vorzustellen, schließlich muss ihre Präsens durch die Kameralinse der Technik genügen, um eine Bindung zur Hauptfigur aufzubauen.
Da Partys in der heutigen Generation anders gefeiert werden, kurze Snapchat-Videos unumstößlich dazugehören, der Alltag sowieso immer mehr über solche Dienste protokolliert wird, lässt die unkommentierte Darstellung auch zum Nachdenken anregen, gerade auch mit Blick auf die nachfolgende Geschichte.
Doch so clever und neuartig der Screenlife-Thriller technisch ist, kann der Film doch nur mit einer sehr guten Hauptdarstellerin funktionieren. Mal gar nicht im Bild, dann nur als Face-Cam im Bildrand – der springende Punkt ist Storm Reid, die in „Missing“ wirklich groß aufspielt. Allerdings liegt das Schauspiel im Detail, nur wenige Male sehen wir die Protagonistin in voller Größe. Im Prinzip ist aber das Gesicht im Mittelpunkt, was eine besondere mimische Darstellung zwingend erfordert. Ob es der hoffnungsvolle Blick bei der Eingabe eines Passworts ist, die pure Verzweiflung oder der Schock nach einer Wendung – Storm Reid kann die Gefühle und Emotionen so echt transportieren, dass das Publikum keine Probleme haben sollte, ihr folgen zu können, sie nachvollziehen zu können.
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Aber auch darüber hinaus hat das Regie-Duo um Will Merrick und Nick Johnson eine Ausgangslage geschaffen, die Junes innerhalb des Vermissten-Falls Entwicklungsmöglichkeiten eröffnet und so sind ihre Ermittlungen, ihr Leidensweg, da sie nicht auch noch ihre Mutter verlieren will, auch von viel Menschlichkeit geprägt. Gerade wenn Fragen aufgeworfen werden, wie gut man eigentlich seine engsten Verwandten wirklich kennt, gewinnt die Handlung einen brisanten Ankerpunkt.
Storm Reid ist die Hauptdarstellerin, aber auch wenn die Besetzung noch viele weitere Namen aufführt, bekommt keine weitere Figur wirklich Zeit, sich zu zeigen. Am ehesten wäre da noch Joaquim de Almeida als Javi zu nennen, der für Junes in Kolumbien Nachforschungen anstellt, aber auch der Anker für Junes wird. Der väterliche Charakter ist aber nicht nur charismatisch und zweckdienlich geschrieben, der tragische Hintergrund des Charakters sorgt für den wohl emotionalsten Moment des Films.
Zum Finale hin nimmt die Geschichte noch einige Wendungen, teils schockierend, überraschend, teils sind die Twists aber auch zu konstruiert. Gerade die letzte Wendung könnte so auch aus einem Apple-Werbe-Spot stammen. Dadurch verschwimmt doch immer wieder das zunächst realistisch angelegte Bild, wird immer mehr Fiktion. So sollte letztlich der Film auch als diese verstanden werden. Als fiktiver Thriller mit Elementen, die der Realität nahe kommen können. Jedoch sollte weder das Vorgehen der Vereinigten Staaten noch das des FBI-Agenten für wahr genommen werden, ebenso wie die Hackerfähigkeiten von Junes oftmals weit weg vom Realismus sind.
Fazit:
Zwar erzählt „Missing“ kein realistisches Szenario, doch das sollte auch nicht der Anspruch beim Kinobesuch sein. Viel mehr ist es lupenreines Thriller-Kino, dass das Genre weiterentwickelt und auf der großen Leinwand eine wendungsreiche, fesselnde Geschichte beschreibt. War der technische Rahmen im vergleichbaren Werk „Searching“ oftmals noch zu konstruiert, zeigen die Perspektiven in „Missing“, was im Screenlife-Thriller alles möglich ist. Nimmt man die grandiose Hauptdarstellerin Storm Reid hinzu, kommt ein Film heraus, der richtig gut ist und noch ein cleverer Seitenhieb auf den True-Crime-Hype ist.
7 von 10 Punkten
„Missing“ ist seit dem 23. Februar 2023 in den Kinos.
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