top of page

Kritik zu „The Substance“: Doppelleben im Jugendwahn

Was macht uns schön? Diese scheinbar einfache Frage kann ganze Bücher füllen. In „The Substance“ geht Coralie Fargeat aber stattdessen der Frage nach, was wir tun, wenn wir uns nicht mehr schön finden.


Kritik zu „The Substance“: Doppelleben im Jugendwahn
Bildnachweis: © MUBI

Coralie Fargeat, die in Paris aufwuchs und ihre Karriere als Regisseurin früh begann, erlangte erstmals internationale Aufmerksamkeit mit ihrem Spielfilmdebüt „Revenge“ aus dem Jahr 2017. Fargeat, die ihre Wurzeln in experimentellen Kurzfilmen wie „Le télégramme“ und „Reality+“ fand, hat sich nie auf einem bestimmten Genre ausgeruht. Auch ihr zweiter Spielfilm „The Substance“ setzt diese Genrevielfalt nun fort und basiert auf ihrem eigenen Drehbuch. Weltpremiere feierte der Film beim diesjährigen Cannes-Festival.


Darum geht es:


Elisabeth Sparkle, einst gefeierte TV-Moderatorin einer Aerobic-Show, erfährt an ihrem fünfzigsten Geburtstag, dass sie als zu alt gilt und ihre Sendung abgesetzt wird. Doch dann wird sie auf ein Wundermittel aufmerksam: The Substance, ein Serum, das eine perfekte, jüngere Version von ihr erschaffen kann – und zwar direkt aus ihrem Rücken.


Kritik zu „The Substance“: Doppelleben im Jugendwahn
Bildnachweis: © MUBI

Kurz darauf wird Sue, ihre frisch geborene, jung und makellosere Kopie, zu einer neuen TV-Sensation, während Elisabeth sich in ihrem alternden Körper vor sich hinvegetiert. Doch das perfekte Leben kommt mit einem hohen Preis: Jede Woche müssen die beiden ihren Körper tauschen, ohne Ausnahme. Wer gegen die Regeln verstößt, riskiert mehr als nur einen Schönheitsfehler – das System könnte sie beide vernichten.


Die Rezension:


„The Substance“ befasst sich mit einem Thema, das über die Jahre immer wieder in Literatur und Kino auftaucht, ohne je wirklich vollständig gelöst zu werden: der Angst vor dem Älterwerden und den verzweifelten Versuchen, den biologischen Prozess des Alterns zu stoppen oder zumindest zu verlangsamen. Jung sein, das ist die Zeit der Möglichkeiten, der Vitalität und des gesellschaftlichen Applauses. Alt werden, so suggerieren es unzählige Medien und Narrative, ist der Anfang vom Ende. Was könnte da symbolträchtiger für diese Ängste sein, als die Suche nach einer magischen Substanz, die in der Lage ist, das, was das natürliche Altern mit uns macht, rückgängig zu machen?


Kritik zu „The Substance“: Doppelleben im Jugendwahn
Bildnachweis: © MUBI

Eine seltsam leuchtende Substanz verspricht ewige Jugend – doch der Preis dafür ist hoch, wie die Protagonistinnen Elisabeth und Sue am eigenen Leib erfahren müssen. Der Film könnte ein subtiles Drama sein, aber Fargeat entscheidet sich für den Vorschlaghammer und entfesselt stattdessen ungemein unterhaltsamen Body-Horror. Mit satirischer Schärfe und einer Prise groteskem Horror taucht der Film tief in die Obsession mit der ewigen Jugend und körperlicher Perfektion ein, ein Thema, das sich wie ein scharfer Kommentar auf die jahrzehntelang von Männern dominierte Medienlandschaft und deren Darstellung von Frauenkörpern liest.


Der voyeuristische Fokus auf Sue spiegelt so die hypersexualisierte Inszenierung weiblicher Körper wider, die seit Jahrzehnten als Verkaufsstrategie dient und sich im Schlagwort „Sex sells“ zusammenfassen lässt. Szenen, in denen Sue und andere ebenfalls normschöne junge Frauen in einer grellen Fitnessshow ihre Körper lasziv räkeln, gleichen einer grotesken Persiflage auf Werbespots und moderne Social-Media-Ästhetik. Sie enthüllen, wie die Schönheitsindustrie oft auf Kosten des Selbstwertgefühls ihrer Konsumenten operiert, wie fernab der Realität das ist, was als erstrebenswert verkauft wird.


Ein Blick auf die Zahlen verdeutlicht die Brisanz der Thematik: Laut der American Society of Plastic Surgeons stiegen minimalinvasive Verfahren wie Botox oder Filler seit 2000 um über 200 Prozent, während chirurgische Eingriffe, wie Brustaugmentation oder Facelifts, einen Anstieg von etwa 30 bis 50 Prozent erlebten. Der Film legt hier mit seinem derben, kompromisslosen Humor den Finger in die Wunden unserer Gesellschaft. Ein Produzent, der darüber klagt, dass die Brüste einer Kandidatin „nicht mitten im Gesicht sitzen“, bringt die Absurdität der Schönheitsstandards auf den Punkt. Solche Momente verdeutlichen, wie sehr sich der Film seiner Übertreibung bewusst ist und diese gezielt als Waffe gegen gesellschaftliche Missstände einsetzt.


Kritik zu „The Substance“: Doppelleben im Jugendwahn
Bildnachweis: © MUBI

Die satirische Zuspitzung von Fargeat ist so scharf wie ein Skalpell, mit dem sie ihre Hauptfiguren Stück für Stück entstellt. Elisabeth spiegelt dabei all jene wider, die im ständigen Kampf mit ihrem eigenen Spiegelbild stehen, gefangen zwischen gesellschaftlichen Erwartungen und dem eigenen Selbstwertgefühl. Fargeat gelingt es, diese Problematik mit beißender Ironie und überspitztem Humor zu inszenieren, wodurch die Kritik umso prägnanter wird. Die gesellschaftliche Fixierung auf Jugend und Schönheit wird in der Filmwelt selten so unverhohlen und bissig dargestellt wie hier. Interessant ist dabei auch der Gedanke, wie patriarchale Strukturen solche Ideale formen und aufrechterhalten.


Soziale und kulturelle Erwartungen, die Frauen vorschreiben, jugendlich und attraktiv zu bleiben, wirken auf subtiler Ebene als Kontrollmechanismen. Männer sind zwar ebenfalls betroffen, doch die Gewichtung und Intensität, mit der Frauen diesen Idealen ausgesetzt sind, ist ungleich höher. Historikerinnen und Soziologinnen wie Naomi Wolf und Susan Bordo haben sich intensiv mit dem Thema beschäftigt und aufgezeigt, wie das Patriarchat weibliche Körper als Machtinstrument nutzt, um Frauen in vorgegebenen Rollen zu halten. In „The Substance“ verschmilzt dieser Gedanke mit Fargeats Erzählweise und wird im wahrsten Sinne des Wortes auf die Leinwand gespritzt – direkt und ohne Rücksicht auf Verluste. Bewegungen wie Body Positivity und Body Neutrality haben in sozialen Netzwerken an Bedeutung gewonnen, doch der Weg zur gesellschaftlichen Akzeptanz aller Körperformen ist noch immer weit. Fargeat packt diese Diskrepanz zwischen Ideal und Realität auf besonders bissige Weise an.


Kritik zu „The Substance“: Doppelleben im Jugendwahn
Bildnachweis: © MUBI

Fargeats filmische Handschrift wird dabei von radikalem Stilbewusstsein geprägt. So wie es erzählerisch zwischen Horror und Satire schwankt, hat der Film auch keine starre Bildsprache; hier gibt es kein festes Format: Kameramann Benjamin Kračun drehte in seinen Kameraeinstellungen  zwischen grellen Neonfarben und klaustrophobischen Bildkompositionen völlig frei, während sich auch noch die eine oder andere Refferenz zu bekannten Filmklassikern finden lassen. Es gibt eine Vielzahl an Perspektiven, Einstellungen und Kadrierungen. Zusammen mit dem immer wieder stark akzentuierenden Schnitt von Jérôme Eltabet und Valentin Freron entsteht eine durchweg kurzweilige, immer wieder überraschende und sehr unterhaltsame Bildsprache.


Von 22-mm-Makroaufnahmen, die das Auge extrem nah ins Bild zentrieren und die Iris in den Mittelpunkt rücken, bis hin zu einer genial einprägsamen und gleichzeitig abschreckenden Szene, in der Dennis Quaid gierig und schmatzend in einer 14-mm-T2.9-Einstellung Meeresfrüchte in sich verschlingt – oder einer großartig inszenierten Sequenz, in der Margaret Qualley von einer sie umringenden Männerhorde in die Enge getrieben wird, ist hier sehr viel wortwörtlich für das Auge dabei. Diese visuelle Inszenierung wird durch das markante Sounddesign und die Musik von Rafferty weiter verstärkt. Die elektronische Untermalung schafft eine unheilvolle und doch mitreißende Klangkulisse. Undefinierbare Geräusche, die an organische Prozesse erinnern, unterstützen den Body-Horror-Effekt des Films.


Kritik zu „The Substance“: Doppelleben im Jugendwahn
Bildnachweis: © MUBI

Hier zeigt sich Fargeats Geschick, die Sinne des Publikums auf subtile Weise zu manipulieren, indem sie nicht nur das Auge, sondern auch das Gehör auf eine verstörende Reise schickt. Dies verleiht dem Film eine einzigartige, fast schon immersive Qualität, die das Publikum in die groteske Welt von „The Substance“ hineinzieht. Schauspielerisch getragen durch ein Trio: Demi Moore, Margaret Qualley und Dennis Quaid. Der emotionale Anker des Films ist dabei Demi Moore. Mit ihr geraten wir in den Strudel der Schönheitssucht. Vollkommen uneitel in ihrem Spiel und ohne ausufernde Dialoge gelingt ihr eine sowohl mimisch als auch körperlich beeindruckende Performance. Besonders eindrucksvoll ist eine Szene, in der Elisabeth sich auf ein Date vorbereitet und schließlich doch absagt – ein Moment, der das innere Ringen ihrer Figur ebenso einfängt wie die äußere Absurdität der Situation.


Man spürt förmlich die Verzweiflung einer Frau, die den Ansprüchen der Gesellschaft und ihrer eigenen Idealvorstellungen nicht mehr gerecht werden kann. Hier zeigt sich die Stärke von Demi Moores Spiel: Sie verleiht ihrer Figur eine emotionale Tiefe, die berührt und zum Nachdenken anregt. Margaret Qualley ist als jüngere Version der Figur ein deutlicher Kontrast. Zunächst verkörpert sie das perfekte Schönheitsideal, doch mit den zunehmenden Rissen in diesem Bild nimmt sie immer mehr Raum im Geschehen ein. Zum Finale hin hat sie einige besonders einprägsame Momente. Einprägsam bleibt auch Dennis Quaid. Ob als abstoßend sexistischer Charakter oder in einer ekelerregenden Szene, in der er Meeresfrüchte verspeist – er spielt den Antagonisten herrlich durchtrieben und schafft es, den Zuschauenden gleichermaßen zu fesseln und abzustoßen.


Kritik zu „The Substance“: Doppelleben im Jugendwahn
Bildnachweis: © MUBI

Letztendlich ist „The Substance“ weniger eine klassische Dystopie als vielmehr eine bittere Parabel auf Selbstakzeptanz und den Umgang mit der eigenen Vergänglichkeit. Es geht weniger um die Herkunft der Substanz oder deren wissenschaftliche Plausibilität, sondern um die Auswirkungen auf die Psyche der Betroffenen. Allerdings nicht bitterernst sondern zum schreien komisch. Das ist zwar alles andere als subtil, aber aus diesem bewusst offentsichtlich überzeichneten Film entsteht einer der physisch tragischsten und lustigsten Body-Horror-Werke der letzten Jahre. Dabei ist der Film nicht nur eine Anklage gegen die Schönheitsindustrie, sondern auch eine tiefgreifende Reflexion über die Natur des Menschseins. Gibt es überhaupt eine klare Trennung zwischen dem biologischen und dem geistigen Selbst?


Fazit:


Surreal und scharfzüngig entfesselt Coralie Fargeat einen grellen Albtraum aus Jugendwahn, groteskem Humor und schonungslosem Body-Horror – clever inszeniert, schauspielerisch beeindruckend und, trotz aller Überzeichnung, zum Nachdenken anregend. Sehr sehenswert!


>>> STARTTERMIN: Ab dem 19. September 2024 im Kino.


Weitere Informationen zu „The Substance“:

Genre: Horror, Komödie, Drama

Produktionsjahr: 2023

Laufzeit: 141 Minuten

Altersfreigabe: FSK 16


Regie: Coralie Fargeat

Drehbuch: Coralie Fargeat

Besetzung: Demi Moore, Margaret Qualley, Dennis Quaid und viele mehr ...


Trailer zu „The Substance“:



Kommentare


bottom of page