Das beliebte Independent-Studio A24 hat bei den diesjährigen Oscars ordentlich abgeräumt. Neben dem gefeierten Überraschungserfolg „Everything Everywhere All at Once“ konnte auch das bewegende Kammerspiel „The Whale“ zwei Auszeichnungen gewinnen. Das Psychodrama erzählt die Geschichte eines extrem übergewichtigen Mannes und wurde bisher von Kritikern überwiegend positiv aufgenommen – doch wie gut ist der Film wirklich?
Bildnachweis: © A24 / Plaion Pictures
In unserer Gesellschaft wird die Zunahme von Übergewicht immer mehr zum Problem. Wie die Weltgesundheitsorganisation im Mai des vergangenen Jahres im Sachstandsbericht Adipositas 2022 offenlegte, haben Übergewicht und Adipositas in allen Teilen der europäischen Region epidemische Ausmaße angenommen und die Zahlen steigen weiterhin. Die Folgen dieser Entwicklung sind besorgniserregend, da nahezu jedes dritte Kind und 59% der Erwachsenen betroffen sind.
Gerade Adipositas zählt zu den führenden Ursachen für Tod und Behinderung und verursacht jährlich mehr als 1,2 Millionen Todesfälle in Europa. Daher trifft die Prämisse der Kammerspielverfilmung „The Whale“ jetzt auch einen besonderen Nerv der Zeit, auch wenn Samuel D. Hunters ergreifende Geschichte eines Mannes, der mit 270 Kilo am Rande des Todes steht, bereits einige Jahre älter ist.
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Bereits im Jahr 2012 verfasste der US-amerikanische Dramatiker Samuel D. Hunter das gefeierte Broadway-Theaterstück „The Whale“, das von einem adipösen Mann handelt, der seine letzten Tage damit verbringt, seine Beziehungen zu Familie und Freunden wieder in Ordnung zu bringen. Nun hat sich Hunter daran gemacht, aus seinem preisgekrönten Bühnenstück ein Drehbuch für die große Leinwand zu schreiben. Die Verfilmung des Stücks wurde bereits auf einigen Filmfestivals gezeigt und erntete bisher überwiegend positive Kritiken, doch es gibt auch negative Stimmen. Während einige die schauspielerische Leistung und die Umsetzung des Stoffes lobten, bemängelten andere, dass die Kinoadaption dem intensiven Charakter des Bühnenstücks nicht gerecht wird. Die Frage bleibt also: Ist die Kinoverfilmung von „The Whale" gelungen?
Darum geht es:
Englischprofessor Charlie gibt Online-Kurse, aber seine Webcam bleibt immer ausgeschaltet. Grund dafür ist sein extremes Übergewicht von fast 300 Kilogramm, das ihm große Scham bereitet. Charlie lebt sehr zurückgezogen und hat nur eine Freundin namens Liz, die Ärztin ist und ihn dazu drängt, sich im Krankenhaus behandeln zu lassen, da er an akuter Herzinsuffizienz leidet. Doch Charlie weigert sich aus Kostengründen.
Eines Tages besucht ihn ein Missionar namens Thomas von der New Life Church, der versucht, ihn von der Botschaft Christi zu überzeugen, aber Charlie bleibt unbeeindruckt und bestellt stattdessen große Mengen an Pizza. Währenddessen hofft Charlie darauf, Zeit mit seiner entfremdeten Tochter Ellie zu verbringen, die er seit acht Jahren nicht gesehen hat. Er bietet ihr sogar 120.000 Dollar an, wenn sie Zeit mit ihm verbringt …
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Die Rezension:
„The Whale“ ist ein filmisches Kunstwerk, das auf allen Ebenen beeindruckt. Sowohl technisch als auch schauspielerisch ist der Film grandios, doch auch wenn die Prämisse einfach klingt, entfaltet sich daraus eine komplex tiefgründige Geschichte über das Leben. „The Whale“ ist eine geniale Metapher für die heutige Zeit und beschäftigt sich mit Themen wie extremem Übergewicht, menschlicher Empathie und der Rolle der Religion in unserer modernen Gesellschaft. Es geht um menschliche Verzweiflung, das Bedürfnis nach Versöhnung, zwischenmenschliche Beziehungen und den Drang, helfen zu wollen.
Jedoch erfordert es Mut, die Tatsache zu akzeptieren, dass unsere Mitmenschen manchmal Probleme haben, bei denen wir nicht helfen können, insbesondere wenn sie nicht bereit sind, Hilfe anzunehmen. So kann Pflegearbeit eine enorme emotionale Belastung darstellen, wodurch es oft schwerfällt, sich selbst und anderen die Erlaubnis zu geben, einander so anzunehmen, wie man ist. Da ist extremes Übergeicht nur der Aufhänger einer Metapher, die in „The Whale“ mit emotionaler Moby Dick-Analogie erzählt wird.
Vor rund einem Jahrzehnt hatte der renommierte Regisseur Darren Aronofsky erstmals angekündigt, dass er gerne „The Whale“ für das Kino adaptieren möchte, doch er scheiterte lange Zeit an der Suche nach der richtigen Besetzung. Obwohl im Abspann lediglich sechs Namen aufgeführt werden, war es für das intensive Kammerspiel von enormer Bedeutung, dass jeder Schauspieler perfekt in seine Rolle passt. Und wie der fertige Film nun zehn Jahre später zeigt, ist es Aronofsky wahrlich gelungen, eine perfekte Besetzung zu finden.
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Allen voran brilliert Hauptdarsteller Brendan Fraser, der für seine Performance einen Oscar als bester Hauptdarsteller gewann. Trotz des einschränkenden Fatsuits gelingt es Fraser, den Menschen hinter der Wal-Fassade auf äußerst nuancenreiche Weise zum Vorschein zu bringen. In seiner Mimik spiegelt sich das volle Ausmaß der Qualen einer Seele wider, die sich nach Erlösung sehnt und stets des beste im Menschen sieht, nie den Optimismus verliert. Selbst die kleinste Regung wird durch das aufwendige Oscar-prämierte Make-up verstärkt und Brendan Fraser gelingt es, mit seiner Gesichtsmimik und vor allem seinen Augen besondere Momente zu schaffen, die Charlie charakterisieren. Frasers überwältigende und ergreifende Performance ist das Herzstück des Films, der mit seiner emotionalen Wucht mehr als einmal zu Tränen rührt.
Doch so, wie „The Whale“ in einer weiteren Schauspielkategorie der Oscars nominiert war, so mitreißend ist auch die restliche Besetzung. Obwohl Fraser jederzeit die Show stiehlt, weiß auch der Rest des Casts zu überzeugen. Obwohl Samantha Morton in „The Whale“ nur einen einzigen Auftritt hat, bleibt ihr Charakter doch im Gedächtnis. Als Mutter von Ellie und Exfrau von Charlie verkörpert sie eine vom Leben gezeichnete Mutter einer schwer erziehbaren Tochter und nutzt ihren kurzen Moment auf der Leinwand voll aus. Obwohl ihr Auftritt nur von kurzer Dauer war, ist doch gerade das Zusammenspiel zwischen Brendan Fraser und Samantha Morton wirklich faszinierend.
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Hong Chau verkörpert Charlies einzige wahre Freundin, die trotz der Gewissheit, dass das Schiff sinken wird, Charlie niemals aufgibt und immer mit einem authentischen, energischen Auftreten beeindruckt. Unterdessen dürfte auch „Stranger Things“-Star Sadie Sink mit der auf den ersten Blick fiesen Ellie überraschen. Obwohl sie bisher vor allem in Teenie-Serien zu sehen war, zeigt sie nun im ernsten und anspruchsvollen Kino, dass sie auch komplexere Rollen mit großer Präsenz verkörpern kann. In „The Whale“ schlüpfte Sink in die Rolle der rebellischen und verschlossenen Teenagerin Ellie, die immer noch schwer unter der Tatsache leidet, dass ihr Vater sie und ihre Mutter für den mittlerweile verstorbenen Partner verlassen hat. Trotz der wütenden, abweisenden Fassade zeigt ihre Figur im Laufe der Geschichte, dass das Leben nicht nur in Schwarz und Weiß, sondern in den vielen Grautönen dazwischen gelebt wird.
Dabei sollte auch man den auf den ersten Blick etwas unscheinbaren Ty Simpkins und seine Rolle des Missionars Thomas nicht vergessen. Obwohl er zunächst das Stereotyp eines Kirchenpredigers verkörpert, der von Tür zu Tür geht, um "Ungläubige" zu bekehren, entwickelt sich seine Figur im Laufe des Films zu einer spannenden und ambivalenten Figur. So wird der in seinen Phrasen noch selbstsichere Thomas sofort unsicher, wenn sich die Dialoge von den Glaubensgrundsätzen entfernen, er von einem Teaanager-Mädchen mit seiner Ambivalenz konfrontiert wird.
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Im Finale des Films zeigt sich letztlich die volle Widersprüchlichkeit seines Glaubens, als er versucht, Charlies Schicksal an seiner sexuellen Orientierung festzumachen. Obwohl seine Religion laut seiner Phrasen alle Menschen einschließen sollte, offenbart sich, dass auch sie Vorurteile und Grenzen hat. Ty Simpkins Thomas zeigt auf eindrucksvolle Weise, wie komplex und widersprüchlich Glauben und Religion sein kann und dass auch diejenigen, die ihn verkünden, nicht immer die einfachen Antworten haben und sie vor allem nicht für jeden funktionieren können. Dabei bleibt Ty Simpkins selbst stets recht unscheinbar, seine Präsenz ist nicht aufdringlich und gerade in den schwächeren Momenten seiner Figur spielt er groß auf.
All das findet in den kargen Räumen des Hauses von Protagonist Charlie statt, dem einzigen Handlungsort dieser Geschichte. Auch wenn das Kammerspiel technisch nicht hervorsticht, liegt die Genialität mal wieder im Detail. So ist auch die Kameraarbeit in diesem Film einfach großartig. Die verschiedenen Kameraperspektiven machen es trotz engem 4:3-Format einfach, ein Gefühl für Raum und Figuren zu entwickeln. Die Kameraarbeit geht sogar noch weiter, indem sie speziell auf die Figuren abgestimmt wurde und bestimmte Blickwinkel oder Einstellungen wiederkehren, um Charaktere weiter in der Geschichte zu etablieren und oder ihre Persönlichkeiten zu unterstreichen.
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Auch wenn der Soundtrack nur am Ende kurz bombastisch anschwillt und ansonsten größtenteils ruhig und fast unauffällig im Hintergrund spielt, ist die musikalische Untermalung von „The Whale“ ebenso fantastisch. Die Verwendung fast ausschließlich von Geigen verleiht dem Film eine ganz eigene Note und begleitet mal mehr oder weniger intensiv das Geschehen. Erst bei der Fressorgie kommt die ganze Stärke dieses minimalistischen Soundtracks zur Geltung.
Fazit:
„The Whale” ist ein Film, der auf allen Ebenen beeindruckt, ein intensives Kammerspiel mit komplexer Dramaturgie und großartigem Schauspiel, dass mit seiner emotionalen Wucht mehr als einmal zu Tränen rührt und weit mehr als „nur” die One-Man-Show von Brendan Fraser ist - „The Whale” ist ein Meisterwerk!
10 von 10 Punkten
„The Whale“ ist seit dem 27. April 2023 in den Kinos.
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