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Kritik zu „Vena“: Drogen, Haft und Mutterliebe

Frauen, die trotz Drogenproblemen schwanger werden, werden schnell verurteilt und als unverantwortlich gebrandmarkt. Über eine solche Frau hat nun Chiara Fleischhacker einen Film gedreht.


Kritik zu „Vena“: Drogen, Haft und Mutterliebe
Bildnachweis: ©2024 Neue Bioskop Film

Chiara Fleischhacker, geboren 1993 in Kassel und aufgewachsen in Erfurt, hat bereits in jungen Jahren einige Stationen in ihrem Lebenslauf gesammelt. Mit 14 zog sie ins Eliteinternat für Sport in Erfurt, erhielt später ein Stipendium für eine Studienreise nach Südfrankreich und meisterte eine Fahrradtour von London nach Rom, bevor sie ein zweijähriges Psychologiestudium in Freiburg begann.


2015 folgte der Wechsel zur Filmakademie Baden-Württemberg, wo sie sich auf Dokumentarfilm-Regie spezialisierte und während ihres Studiums gleich mehrfach auf sich aufmerksam machte: mit internationalen Festivalteilnahmen wie beim European Filmfestival Lille, Filmfestival Max-Ophüls-Preis, Interfilm Berlin oder Filmfest Dresden und preisgekrönten Werken wie „Was bleibt“, das unter anderem auf ARTE und im SWR ausgestrahlt wurde. Das Drehbuch zu ihrem Spielfilmdebüt „Vena“ wurde 2022 auf der Berlinale bereits mit dem Thomas-Strittmatter-Preis prämiert und für den Nachwuchspreis FIRST STEPS dreifach nominiert.


Darum geht es:


Jenny, jung und ungewollt schwanger, ist in einer Beziehung, die von Crystal Meth überschattet wird. Als das Jugendamt von ihrer Schwangerschaft erfährt, wird sie gezwungen, sich Unterstützung bei einer Familienhebamme zu suchen. Ihre größte Angst: Auch das Sorgerecht für ihr zweites Kind zu verlieren, nachdem ihr erster Sohn bereits bei ihrer Mutter lebt.


Kritik zu „Vena“: Drogen, Haft und Mutterliebe
Bildnachweis: ©2024 Neue Bioskop Film / Fotografin Lisa Jilg

Die anfängliche Skepsis gegenüber Hebamme Marla weicht langsam einer unerwarteten Verbundenheit, die Jenny neuen Mut gibt. Doch als es scheint, dass sich Jennys Leben endlich zum Guten wenden könnte, taucht der dunkle Schatten ihrer Vergangenheit auf – und stellt alles auf den Kopf.


Die Rezension:


Chiara Fleischhackers Spielfilmdebüt „Vena“ bietet eine außergewöhnlich tiefgehende und respektvolle Auseinandersetzung mit einem gesellschaftlich oft vernachlässigten Thema: der Lebensrealität suchtkranker Mütter, die inhaftiert sind und gleichzeitig um ihre Bindung zu ihren Kindern kämpfen. Der Film ist keine leichte Kost, sondern eine eindringliche Milieustudie über die Komplexität menschlicher Beziehungen, soziale Stigmatisierung und die Mechanismen eines oft überforderten Systems. Der Film porträtiert die alltäglichen Kämpfe und inneren Konflikte einer Frau, die am Rande der Gesellschaft lebt, ohne sie zu romantisieren oder zu verurteilen.


Kritik zu „Vena“: Drogen, Haft und Mutterliebe
Bildnachweis: ©2024 Neue Bioskop Film / Fotografin Lisa Jilg

Die Stärke des Films liegt in seiner subtilen Inszenierung, die sich durch eine klare visuelle Sprache und eine intime Erzählweise auszeichnet. Lisa Jilgs Kameraarbeit bleibt stets nahe an Jenny. Mit einer fast dokumentarischen Nähe begleitet sie Jenny in ihrem Alltag und zeigt ihre Verletzlichkeit ebenso wie ihre innere Stärke. Diese Intimität schafft eine emotionale Nähe, die es dem Zuschauenden erlaubt, in Jennys Welt einzutauchen und ihre Hoffnungen und Ängste zu teilen. Die 1,66-Bildkomposition betont die Enge von Jennys Welt, lässt aber gleichzeitig Raum für Momente der Schönheit, etwa in Nahaufnahmen ihrer Orchideenpflege oder ihres Sohnes Luki.


Diese Kontraste spiegeln Jennys innere Zerrissenheit wider – zwischen Hoffnung und Resignation, zwischen dem Wunsch nach einem besseren Leben und der Realität, die sie immer wieder einholt. Die Farbpalette, die von tristen Grautönen bis hin zu lebendigen Akzenten reicht, unterstützt diese Dualität und verleiht dem Film eine starke visuelle Identität, während die nur sehr minimalistische musikalische Untermalung die volle Aufmerksamkeit auf die Schauspielenden und die Atmosphäre der Szenen lenkt und nur an wenigen Schlüsselmomenten Akzente setzt. Nichtsdestotrotz verwendet der Film immer wieder poppige Lieder wie unter anderem in einer Szene recht prominent „Infinity 2008 (Klaas Vocal Edit)“.


Regisseurin Chiara Fleischhacker am Set von „Vena“:

Kritik zu „Vena“: Drogen, Haft und Mutterliebe
Bildnachweis: ©2024 Neue Bioskop Film / Fotografin Lisa Jilg

Jennys schwarz gefärbte Haare, die auffälligen Nägel und das übertriebene Make-up lassen sie zunächst wie eine stereotype Rebellin wirken. Doch Fleischhacker fordert dazu auf, hinter die Fassade zu blicken und Jenny als das zu sehen, was sie ist: eine Frau, die trotz ihrer Fehler und Herausforderungen eine tiefe Liebe zu ihrem ungeborenen Kind empfindet. Diese Ambivalenz macht sie nicht nur glaubwürdig, sondern auch zu einer Identifikationsfigur, die sowohl Sympathie als auch Reflexion über gesellschaftliche Vorurteile hervorruft. Es gibt keine einfachen Antworten oder klaren Schuldzuweisungen.


Stattdessen lässt Chiara Fleischhacker ihre Hauptfigur als facettenreiche Persönlichkeit erscheinen, deren Geschichte zwar fiktiv ist, aber unzählige reale Schicksale widerspiegelt. Denn da eine Schwangerschaft kein Grund für einen Haftaufschub ist, müssen angehende und inhaftierte Mütter darauf hoffen, dass eines der derzeit fünf existierenden deutschen Mutter-Kind-Heime einen Platz frei hat, in dem Frauen trotz Haft mit ihrem Kind zusammen bleiben dürfen. Die Wahrscheinlichkeit ist allerdings oft nicht so groß und mündet nicht selten in der Trennung zwischen Mutter und Kind.


Die Geschichte berührt nicht nur, sondern wirft auch fundamentale Fragen auf. Wie gerecht ist ein System, das Müttern ihre Kinder wegnimmt, weil die Kapazitäten fehlen? Wie traumatisierend ist eine solche Trennung für Mutter und Kind? Und wie kann eine Resozialisierung gelingen, wenn die betroffenen Frauen zusätzlich stigmatisiert werden? Diese Fragen werden nicht plakativ beantwortet, sondern dem Publikum zur Reflexion überlassen.


Kritik zu „Vena“: Drogen, Haft und Mutterliebe
Bildnachweis: ©2024 Neue Bioskop Film / Fotografin Lisa Jilg

Wie Chiara Fleischhacker in ihrer etwa zweijährigen Recherche herausfand, müssen diese Frauen größtenteils aufgrund von Drogendelikten, Schwarzfahrens oder Beschaffungskriminalität in den Strafvollzug. Stehen solche Straftaten in einem Verhältnis zu der weitreichenden Trennung von Mutter und Kind? Wie Dr. Karlheinz Keppler, der jahrelang in der JVA Vechta als Gynäkologe genau solche Frauen betreut hat und dessen Einschätzungen in die Recherche zum Film eingeflossen sind, meint, dass sich der Stress einer Extremsituation wie dem Gefängnisaufenthalt zwangsläufig auf das Kind übertrage. An diesem Punkt hält der Film einige kritische Spitzen parat.


Zentral für die Wirkung des Films ist die herausragende Darstellung von Emma Nova in der Rolle der Jenny. Mit subtilen Gesten und intensiver Körperlichkeit verkörpert sie die Ambivalenz ihrer Figur: eine Frau, die zwischen Stärke und Zerbrechlichkeit, Hoffnung und Resignation pendelt. Ihre Darstellung trägt maßgeblich dazu bei, dass der Film emotional berührt und gleichzeitig zum Nachdenken anregt. Die Wandlung, die Jenny im Laufe der Handlung durchläuft, wird durch Novas nuanciertes Spiel ebenso glaubwürdig wie ergreifend dargestellt.


Unterstützt wird sie von einem Ensemble, das durchweg glaubwürdig agiert und den filmischen Realismus zusätzlich stärkt. Besonders bemerkenswert ist Nebenfigur Marla, eine Familienhebamme, die Jenny auf ihrem Weg begleitet. Gespielt durch Friederike Becht repräsentiert Marla eine Form von Unterstützung und Hoffnung, ohne dabei zu idealisiert zu wirken. Ihre Rolle zeigt, wie wichtig zwischenmenschliche Beziehungen und fachliche Hilfe in solch extremen Lebenssituationen sein können.


Kritik zu „Vena“: Drogen, Haft und Mutterliebe
Bildnachweis: ©2024 Neue Bioskop Film / Fotografin Lisa Jilg

Die titelgebende vena umbilicalis, die Nabelschnurvene, symbolisiert die untrennbare Verbindung zwischen Mutter und Kind und wird zur zentralen Metapher des Films. Fleischhacker zeigt die Herausforderungen, die mit dieser Verbindung einhergehen, auf eine Weise, die gleichermaßen berührend wie erschütternd ist. An einigen Stellen hätte der Film zwar von einer strafferen Erzählweise profitieren können und Nebenfiguren wie Jennys Freund Bolle bleiben aufgrund des starken Fokus auf Jenny selbst zwar etwas blass, dennoch ist „Vena“ bis zum Schluss packend.


Fazit:


Chiara Fleischhacker schafft es, mit ihrem Spielfilmdebüt „Vena“ eine sensible, aber ungeschönte Darstellung einer marginalisierten Lebensrealität zu liefern. Durchdacht inszeniert und herausragend getragen von Emma Nova.


>>> STARTTERMIN: Ab dem 28. November 2024 im Kino.


Weitere Informationen zu „Vena“:

Genre: Drama

Produktionsjahr: 2023

Laufzeit: 116 Minuten

Altersfreigabe: FSK 12


Regie: Chiara Fleischhacker

Drehbuch: Chiara Fleischhacker

Besetzung: Emma Nova, Friederike Becht, Paul Wollin und viele mehr ...


Trailer zu „Vena“:


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