Mia Maariel Meyer im Interview zu „22 Bahnen“: „Kino muss berühren“
- Toni Schindele

- 6. Sept.
- 6 Min. Lesezeit
„Alkoholismus bei Frauen ist ein großes Tabuthema, weil so viel Scham damit verbunden ist“, erzählt Regisseurin Mia Maariel Meyer über ihren neuen Film „22 Bahnen“, der den gleichnamigen Bestseller von Caroline Wahl adaptiert.

Bisher waren ihre Filme stets Eigengewächse: Bei „Treppe aufwärts“ und „Die Saat“ war Mia Maariel Meyer nicht nur Regisseurin, sondern auch am Drehbuch beteiligt. Mit „22 Bahnen“ verfilmte sie nun erstmals eine Romanvorlage. Die literarische Basis dafür könnte dabei aktueller kaum sein. Caroline Wahls gleichnamiger Debütroman erzählt die Geschichte von der jungen Mathematikstudentin Tilda, die zwischen der Fürsorge für ihre elfjährige Schwester Ida und der Last einer alkoholkranken Mutter aufgerieben wird und sich, Bahn für Bahn im Schwimmbad, durch das Leben kämpft. Es ist ein stilles, aber intensives Buch über Verantwortung, Aufopferung, Schwesternliebe und die Frage, wie man seinen eigenen Weg findet, wenn das Zuhause einen festhält.
Diese Geschichte wurde schnell zum Bestseller, schon kurz nach der Veröffentlichung stieg „22

Bahnen“ auf Platz 1 der SPIEGEL-Bestsellerliste im Bereich Belletristik und hielt sich über viele Wochen hinweg in den Charts. Darüber hinaus wurde Caroline Wahls Debütroman zum „Lieblingsbuch des unabhängigen Buchhandels 2023“ gekürt. Wie sie selbst auf Caroline Wahls Roman aufmerksam wurde, welche Szenen sie am liebsten ins Drehbuch übernommen hätte, warum sie sich bewusst gegen eine fokussierte Darstellung von Armut entschieden hat und wie sie sich dem komplexen Thema Alkoholismus näherte – darüber spricht Mia Maariel Meyer hier im Interview.
Der Film Journalist: Wann bist du auf Caroline Wahls Roman „22 Bahnen“ aufmerksam geworden?
Mia Maariel Meyer: Ich habe den Hype damals nur am Rande mitbekommen. Als das Buch rauskam, hatte ich viel zu tun, deshalb konnte ich es erst später lesen – ich glaube, im Spätsommer oder Frühherbst 2023. Als ich es gelesen habe, konnte ich die Begeisterung sofort verstehen. Ich war direkt total eingenommen und habe sofort den Film gesehen, den ich gerne machen wollte.
Der Film Journalist: Welche Aspekte des Romans waren dir bei der Adaption besonders wichtig und gab es Elemente, die du schweren Herzens weglassen musstest?
Mia Maariel Meyer: Bei einem Erfolgsbuch hat man natürlich einen ganz anderen Druck – jeder Leser hat seinen eigenen Zugang, dem man nur bedingt gerecht werden kann, daher muss man etwas eigenes erschaffen, was im besten Fall eine Ergänzung, ein Erlebnis, ist. Carolines Buch liest sich wie ein Rausch. Es saugt dich förmlich ein. Diesen Rausch wollte ich auch im Film transportieren. Kino kann Intensität und physische Erfahrung nochmal anders vermitteln als es ein Buch kann – das wollte ich spürbar machen. Zwischen meinem Einstieg und dem fertigen Drehbuch lagen nur ca acht Monate, aber Drehbuchautorin Elena Hell hatte das Buch vorher schon intensiv für sich aufgeschlüsselt und analysiert, was bleiben muss, was raus kann. Als ich dazukam, gab es schon eine Fassung. Ich erinnere mich, dass ich bei manchen Stellen dachte: Schade, wenn das fehlt, oder das hätte ich anders erzählt und dann haben wir in enger Zusammenarbeit gemeinsam weiter analysiert und abgewogen, was die Geschichte für uns wirklich ausmacht.
Sehr schnell wurde deutlich: Wir müssen uns fokussieren. Das Buch ist umfassender. Natürlich

bleibt dabei auch Wehmut. Zum Beispiel liebe ich die Szene, in der Ida am Ende alles für Tilda einfädelt, Viktor zum Essen einlädt – die konnten wir nicht nur aus kapazitären Gründen, sondern auch aus dramaturgischen Gründen nicht mehr einbauen. Ich hätte sie gern mitgenommen. Es gab viele solcher kleinen Dinge. Auch das Ende war ursprünglich länger und ausufernder. Der Punkt, an dem der Film jetzt endet, ist aber gut . Fürs Buch mag ich aber ebenso, dass es noch weitergeht – ich liebe diese Welt einfach. Ich hätte sie gern mitgenommen. In der Zusammenarbeit empfand ich Caroline Wahl als sehr großzügig. Als wir ihr den Picture Lock gezeigt haben – also die Schnittfassung, hat sie sofort gesagt: Das ist eine Interpretation meines Buchs. Und das ist es auch.
Zudem war sie auch ein toller Sparring-Partner. Wenn ich Fragen hatte, zum Beispiel: Was hört Tilda für Musik? – konnten wir uns austauschen. Caroline hat mir auch geholfen, die Figuren noch besser zu verstehen und hat mich inspiriert eine Übersetzung zu finden. Tilda war bei der Besetzung lange gewissermaßen ein Blank Space. Laura Tonke und Jannis Niewöhner hatte ich beim Lesen schon im Kopf, aber bei Tilda war es offen. Und wir haben mit Luna Wedler die perfekte Besetzung gefunden.
Der Film Journalist: Obwohl das Buch überwiegend positiv aufgenommen wurde, gab es auch kritische Stimmen zur Darstellung der Armut – insbesondere der Vorwurf, finanzielle Not werde ausgeblendet. Wie blicken Sie auf diese Kritik, und wie spiegelt der Film die Lebensrealität von Tilda und Ida?
Mia Maariel Meyer: Für mich lag der Fokus des Films – wie auch schon im Buch – immer auf dem Thema Alkoholismus und auf der prekären Situation, die für die Familie durch die Sucht der Mutter entsteht, nicht aber auf dem Aspekt der Armut. Durch meine Recherchen hat sich mein

Blick auf dieses Thema noch einmal geschärft. Gerade für die Geschichte halte ich es für wichtig, Alkoholismus von finanzieller Not zu entkoppeln. Die Familie lebt nicht in wirtschaftlicher Not, aber sie hat dennoch mit den massiven Folgen der Krankheit zu kämpfen. Ich finde, dass dies entscheidend ist, um die Dimension von Alkoholismus als eigenständige, zerstörerische Krankheit sichtbar zu machen – unabhängig von sozialer Herkunft oder ökonomischer Situation. Andrea ist Akademikerin, sie wollte eine wissenschaftliche Laufbahn einschlagen und stammt in meiner Vorstellung aus einem akademischen Elternhaus. Doch trotz dieser privilegierten Herkunft ist sie irgendwann falsch abgebogen – mit massiven Konsequenzen, nicht nur für sie selbst, sondern vor allem für ihre beiden Töchter. Alkoholismus bei Frauen ist ein großes Tabuthema, weil so viel Scham damit verbunden ist. Wir müssen als Gesellschaft Wege finden, wieder eine Brücke zu den Betroffenen zu schlagen. Und dafür braucht es einen Blick auf die Krankheit, der nicht verurteilt, sondern Verständnis schafft – ohne das Leid zu verharmlosen.
Der Film Journalist: Wie haben Sie sich auf das Thema Alkoholismus in Familien vorbereitet – gab es Austausch mit Betroffenen oder Experten?
Mia Maariel Meyer: Ich habe für den Film mit betroffenen Familien gesprochen, mich mit Fachliteratur und Psychologen beschäftigt. Aber das Wichtigste war: zu verstehen, was es mit Familien macht. Kinder entwickeln früh Mechanismen, um sich dem Verhalten ihrer Eltern anzupassen – sie können nicht einfach Kinder sein. Auch in unserem Film: Jeder andere würde in Panik geraten, wenn das Haus fast abbrennt – Tilda bleibt ruhig. Für sie ist das nicht neu. Die Mutter hat wieder getrunken, die Küche fast angezündet – damit leben sie. Das ist tragisch und leider keine reine Fiktion. Solche Geschichten gibt es überall, auch wenn man sie oft nicht sieht.Umso schöner finde ich, dass wir so eine Geschichte ins Kino bringen konnten – einen Ort, der nicht nur für Eskapismus steht. Natürlich ist unser Film auch ein Erlebnis, aber eben eines, das ein wichtiges Thema anspricht. Und Kino darf das. Es darf unbequem sein.
Der Film Journalist: Die Schwesternbeziehung zwischen Tilda und Ida ist das emotionale Herz der Geschichte. Wie war es, mit Luna Wedler und Zoë Baier diese besondere Dynamik zu entwickeln?
Mia Maariel Meyer: Ich bin unglaublich glücklich über meinen Cast im Ganzen. Luna Wedler ist

nicht nur ein grossartiger Mensch, sondern eine wahnsinnig einfühlsame und kluge Schauspielerin. Die Chemie zwischen Zoe und Luna stimmte sofort. Zoë konnte immer auf Luna bauen und die beiden waren wirklich wie Schwestern am Set. Zudem ist Zoë ein unglaublich beeindruckender junger Mensch. Sie wirkt wie eine erwachsene Schauspielerin, die ihren Beruf schon seit 20 Jahren ausübt: immer top vorbereitet, voll konzentriert, mutig und voller Liebe zum Film. Dieser Mut und diese Offenheit geht bei manchen jungen Schauspielern irgendwann verloren, weil sie anfangen, sich zu sehr selbst zu beobachten und zu bewerten– bei Zoe ist das überhaupt nicht der Fall und das war ein großes Glück.
Der Film Journalist: Zum Abschluss – warum sollte man den Film unbedingt im Kino sehen – und was wünschen Sie sich, bleibt beim Publikum am Ende hängen?
Mia Maariel Meyer: Man sollte ins Kino gehen, weil es eine berührende und mitreißende Geschichte ist, die niemanden kaltlässt. Ich bin überzeugt, dass jeder Zuschauer etwas für sich mitnehmen kann – selbst dann, wenn die Geschichte an manchen Stellen sehr fordernd ist. Aber gerade das ist eine wichtige Erfahrung. Kino muss berühren, Kino muss ein Erlebnis sein. Und im Kino geht es vor allem um eines: fühlen. Genau das bietet „22 Bahnen“ – und davon eine ganze Menge.





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