Kritik zu „Quiet Life“: Von Hoffnung und Hilflosigkeit
- Toni Schindele
- 23. Apr.
- 3 Min. Lesezeit
Ein Kind liegt still auf einem Bett. Die Augen geschlossen, die Muskeln schlaff, keine sichtbaren Verletzungen, keine körperliche Erkrankung. Es ist nicht bewusstlos, aber nicht ansprechbar. Ein solches Szenario hat Alexandros Avranas in „Quiet Life“ verfilmt.

Alexandros Avranas zählt zu jenen Filmemachern, die nicht laut sein müssen, um aufzufallen. Spätestens seit seinem Drama „Miss Violence“, das bei den 70. Internationalen Filmfestspielen von Venedig mit dem Silbernen Löwen für die Beste Regie sowie dem Preis für den Besten Darsteller ausgezeichnet wurde, gilt der griechische Filmemacher als ein zentraler Vertreter der sogenannten Greek Weird Wave – einer filmischen Strömung, die mit strenger Bildsprache und radikaler Gesellschaftsanalyse auf sich aufmerksam macht. Mit „Quiet Life“ hat Avranas seinen fünften Langspielfilm inszeniert.
Darum geht es:
Sergei und Natalia fliehen mit ihren Töchtern Katja und Alina aus Russland nach Schweden, auf der verzweifelten Suche nach Sicherheit und einem Neuanfang. Doch der abgelehnte Asylantrag zerstört ihre Hoffnung – und stürzt die traumatisierte Katja in ein tiefes Koma, das Resignationssyndrom. Während der Familie das Leben zwischen Angst, Bürokratie und Fremde entgleitet, kämpfen Sergei und Natalia um Stabilität, Halt und ein kleines Stück Zukunft. Kann ihre Liebe Katja ins Leben zurückholen – oder verlieren sie alles?
Die Rezension:
Mit „Quiet Life“ inszenierte Alexandros Avranas ein feinfühliges Drama, das sich auf die dokumentierte Häufung des sogenannten Resignationssyndroms unter abgelehnten Asylkindern in Schweden zwischen 2002 und 2005 stützt – allein 424 Fälle wurden damals offiziell erfasst. Der Film fiktionalisiert dieses Phänomen anhand einer russischen Familie, deren jüngste Tochter nach der Ablehnung des Asylantrags apathisch wird. Dabei wird das Resignationssyndrom nicht als medizinische Kuriosität, sondern als systemisch induziertes Phänomen dargestellt: Der Film analysiert, wie Behörden, Kliniken und Hilfsstrukturen in ihrer gut organisierten Sachlichkeit Traumata nicht auflösen, sondern prolongieren.

Die Diagnose ersetzt das Verstehen, die Therapie das Zuhören, die Betreuung das Handeln – „Quiet Life“ zeigt, wie formale Korrektheit zur humanitären Verweigerung führen kann. Avranas zeigt keine Täter, keine Helden, keine Gegner – sondern ein System, das Gewalt durch Bürokratie verübt. Die Machtverhältnisse erscheinen nicht direkt und explizit, sondern durch standardisierte Verfahren, formalisierte Kommunikation und ein strukturelles Verantwortungsvakuum. Die Kinderklinik, ein zentrales Setting des Films, wird als Ort struktureller Paradoxien gezeigt: Professionelle Kommunikation, korrektes Verhalten, scheinbare Fürsorge – doch hinter diesen Routinen liegt ein Netz implizierter Macht.
Die dort agierenden Pflegekräfte verkörpern apparative Funktionsträger, deren empathische Gesten Teil einer normalisierten Struktur sind, die Gewalt nicht offen ausübt, sondern durch Regelkonformität legitimiert. Die Gewalt liegt im Formalisierten, im Regelwerk selbst. Avranas und Co-Autor Stavros Pamballis verzichten vollständig auf rückblickende Expositionen, um die Handlung stringent auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren und die Geschichte aus der selektiven Wahrnehmung der geflüchteten Familie zu erzählen. Olympia Mytilinaious Kamera operiert dabei in statischen Einstellungen, mit langen Brennweiten und einer Dominanz grauer, fahler Töne, die jede Szene in eine visuelle Atmosphäre administrativer Entmenschlichung tauchen.
Diese visuelle Ästhetik wird durch das Produktionsdesign von Markku Patila getragen: Behördenräume, Klinikflure und Unterkünfte sind leer, funktional und steril – ein visuelles Echo auf die Verwaltungssysteme, in denen die Figuren zu nummerierten Akten werden. „Quiet Life“ verfolgt eine Ästhetik der administrativen Erstarrung. Chulpan Khamatova als Natalia und Grigoriy Dobrygin als Sergei agieren als Eltern mit methodischer Zurückhaltung. Sie bemühen sich zunächst, die Fassade kontrollierter Rationalität aufrechtzuerhalten – als beherrschte Erwachsene, die ihre Emotionen zugunsten gesellschaftlicher Konventionen unterdrücken. Doch je länger ihnen aufrichtige Anteilnahme verwehrt bleibt, desto tiefer frisst sich die innere Ohnmacht in ihre Gesten und Blicke.

Als die Fassade schließlich bricht und ihre Verzweiflung eruptiv nach außen tritt, entfalten die emotionalen Ausbrüche eine umso größere Wucht. Naomi Lamp und Miroslava Pashutina verleihen den apathischen Töchtern eine eindringliche Präsenz, in der Traurigkeit und innere Anspannung subtil durch Mimik und Körperhaltung hindurchscheinen. Ihre Darstellung bleibt frei von emotionalen Ausbrüchen, vielmehr zeichnen sich innere Prozesse durch minimale Regungen ab – ein unmerkliches Senken der Schultern, ein leerer Blick, eine körperliche Erschlaffung. Diese Reduktion verstärkt nicht nur die emotionale Wucht einzelner Szenen, sondern lässt die allmähliche Verformung kindlicher Subjektivität durch äußeren Druck sichtbar werden.
Fazit:
Alexandros Avranas’ „Quiet Life“ ist ein visuell eindringliches, perfekt besetztes und atmosphärisch beklemmendes Drama, das mit minimalistischer Wucht die schleichende Gewalt eines bürokratischen Systems seziert.
>>> STARTTERMIN: Ab dem 24. April 2025 im Kino.
Wie hat Dir der Film gefallen? Teile Deine Meinung gerne in den Kommentaren!
Weitere Informationen zu „Quiet Life“:
Genre: Drama
Laufzeit: 91 Minuten
Altersfreigabe: FSK 12
Regie: Alexandros Avranas
Drehbuch: Alexandros Avranas, Stavros Pamballis
Besetzung: Chulpan Khamatova, Grigoriy Dobrygin, Naomi Lamp und viele mehr ...
Trailer zu „Quiet Life“:
Comments